Hauchen und Stöhnen im Crescendo. Serge Gainsbourg und Jane Birkin sangen sich 1969 im Song Je t’aime Moi non plus“ zum Höhepunkt der Lust, und die Welt staunte über die musikalisch zelebrierte, sexuelle Freizügigkeit Frankreichs. Erotik in Gestalt von „fatalen Frauen“ wie Brigitte Bardot oder Catherine Deneuve traf seinerzeit auf weiblichen Intellekt, verkörpert durch Ikonen der Emanzipationsbewegung wie Simone de Beauvoir, Gisèle Halimi oder Simone Veil.
Französinnen waren in den 60er und 70er Jahren eine treibende Kraft der internationalen Frauenbewegung. Das „Manifest der 343 Schlampen“, das 1971 veröffentliche Abtreibungsbekenntnis, unterzeichnet von prominenten Frauen, war ein Meilenstein auf dem Weg zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Die Belange „des anderen Geschlechts“ gelangten mehr und mehr ins öffentliche Bewusstsein, auch wenn von realer Gleichbehandlung keine Rede sein konnte. Auch weil Selbstbestimmung und -verwirklichung im katholisch-ländlich geprägten Frankreich de facto nur von einer kleinen, akademisch geprägten, urbanen Elite gefordert und gelebt wurden: der Pariserin, als Inkarnation selbstbewusster Eleganz mit Köpfchen.
Vier Jahrzehnte später zeigt sich, wie widersprüchlich und gespalten es sich mit den Geschlechterrollen im Hexagon noch immer verhält. Wenn Hunderttausende auf die Straße gehen, um gegen die Ehe gleichgeschlechtlicher Partner zu demonstrieren. Wenn muslimische und katholische Eltern zum Boykott von Bibliotheken aufrufen, weil in Kinderbüchern lesbische und schwule Eltern vorkommen oder Altersgenossen, die nicht wissen, ob sie ein Junge oder ein Mädchen sind, oder wenn die erste Frau an der Spitze des Bildungsministeriums von konservativer Seite angefeindet und verhöhnt wird.
Hände weg
Immerhin: Frauen mischen heute in der Politik mit, sie stehen großen Konzernen vor und sind in Vereinen organisiert. Aber die monatelange Debatte über eine Verschärfung des Prostitutionsgesetzes hat gezeigt, dass das Thema Ausbeutung von Frauen auch in Frankreich nicht vom Tisch ist. Mag sein, das auch Serge Gainsbourg zu Lebzeiten das Manifest „Hände weg von meiner Hure“ unterzeichnet hätte, in dem französische Intellektuelle sich nach dem Vorbild der „343 Schlampen“ zu ihrem Freiertum bekannten. Anlass ist das Ende 2013 von der Nationalversammlung verabschiedete Gesetz, nach dem in Zukunft Konsumenten käuflicher Liebe mit einer Geldstrafe von bis zu 1.500 Euro belangt werden können. Bis heute wird das Vorhaben vom französischen Senat blockiert. Die zweite Parlamentskammer befürchtet, dass die juristische Verfolgung von Freiern Prostituierte weiter in die Illegalität treiben wird und die Frauen so noch größeren Risiken ausgesetzt sein würden. Dabei ist Prostitution in Frankreich zumindest auf dem Papier schon seit dem Jahr 1960 verboten. Seitdem wurden sukzessive immer neue Restriktionen gegen Zuhälterei oder das aktive Anwerben von Kunden auf offener Straße eingeführt.
Nun wird der Senat Ende März wieder über den Antrag beraten müssen. Dass die Politik gerade jetzt einen neuen Anlauf gegen die Prostitution unternimmt, scheint kein Zufall. Im kollektiven Bewusstsein ist die Frage nach sexueller Ausbeutung von Frauen wieder erwacht. Grund ist der Prozess gegen Dominique Strauss-Kahn, einst mächtigster Mann der Finanzwelt und aussichtsreicher Anwärter auf das französische Präsidentenamt. Der Vorwurf lautet: organisierte Zuhälterei.
Zwar wird der Ex-Chef des Internationalen Währungsfonds wohl straffrei davonkommen. Doch die Details über seine sexuellen Ausschweifungen schockierten selbst liberal eingestellte Franzosen. Der brutale, würdelose Umgang seiner Altherren-Clique mit Sexarbeiterinnen brachte nicht nur katholische Familienverbände auf die Barrikaden. DSK, so sein Spitzname, hatte zu seiner Verteidigung vorgebracht, er habe nicht wissen können, dass es sich um Prostituierte handelte, weil man dass einer nackten Dame nicht ansehen könne. Die Opfer berichteten von brutalen Szenen, von körperlichen Schmerzen und von Erniedrigung.
Ihre Schilderungen sind Wasser auf die Mühlen der Prostitutionsgegner. DSK erklärte sich selbst während der Anhörung zum „Libertin“. Er sei ein Freund ungenierter sexueller Freizügigkeit, er schätze gesellige Abende unter Freunden. Seine Begierde sei wohl überdurchschnittlich grob. Aber für käufliche Liebe empfinde er tiefe Abscheu, sagte er dem Gericht.
Der Soziologe Daniel Welzer-Lang glaubt, Frankreich habe bei der sexuellen Gleichberechtigung noch immer mit dem historischen Erbe des Kolonialismus zu kämpfen. Dominanz und Patriarchalismus spielten eine entscheidende Rolle. In elitären Kreisen könne von Egalität der Geschlechter keine Rede sein. Er nennt es das 50-Shades of-Grey-Phänomen. „Im Film kommen die Frauen zum weißen, wohlhabenden, einflussreichen Mann. Die erotische Dominanz ist letztlich auch eine soziale“, sagt er. Das Lustempfinden der Frau steigere sich durch die Tatsache, dass der sozial übergeordnete Mann sie erwählt hat. Auch Dominique Strauss-Kahn war der Ansicht, seine Aura der Macht hätte die Frauen dazu bewogen, an den Sexorgien teilzunehmen.
Sexuelle Praktiken seien ein Indikator dafür, wie es um die Gleichberechtigung innerhalb einer Gesellschaft bestellt ist, so Welzer-Lang. Der Professor an der Universität Toulouse untersucht seit Jahren, wie Gruppensex, Partnertausch und Prostitution das Selbstverständnis von Mann und Frau prägen. Der DSK-Prozess zeige das Fortbestehen einer Vorstellung sexueller Dominanz, die einzig vom Mann ausgeht.
Ein wildes Durcheinander
Jedoch sei gleichzeitig auch ein anderes Phänomen zu beobachten: Das Bewusstsein für die weibliche Lust steigt. Welzer-Lang spricht von einer Demokratisierung der Begierde, die sich gerade im milieu libertin, in Swinger-Clubs und auf Partnerbörsen im Internet widerspiegelt. „Viele Frauen suchen heute von sich aus eine von Komplexen befreite Sexualität. Sie wollen ihre Ansprüche geltend machen. Ihre Lust gleichberechtigt ausleben. Wenn Paare nach anderen Sexualpartnern suchen, ob virtuell oder im realen Leben, dann gehen die Impulse beim Flirten und Verführen meist von Frauen aus“, erklärt der Soziologe. Vor allem aber seien durch das Internet und die Ausbreitung von Swinger-Clubs lange bestehende soziale Mauern eingerissen. Paare aus ganz unterschiedlichen Milieus, Berufsgruppen und Altersklassen mischen sich. Alt-68er treffen auf die Generation Porno. Hipster, Künstler, Webdesigner beim Sex mit den Nachbarn aus der Reihenhaus-Siedlung. Unter den „Horizontalen“, wie sich die Clubgänger selbst gerne nennen, machen „keine Kleider Leute“.
Genau darin besteht der Reiz für viele Frauen, die sich ihre Freiheit auch nicht durch Strauss-Kahns Umdefinitionen sexueller Ausbeutung nehmen lassen wollen. „Ich habe noch nie einen Ort gesehen, an dem Frauen das Geschehen so bestimmen wie in den Clubs“, sagt eine, die regelmäßig Swinger-Clubs besucht. „Am Anfang kostet es uns zwar mehr Überwindung, uns darauf einzulassen. Aber wir sind viel häufiger offen für bisexuelle Erfahrungen und wir können an demselben Abend weit mehr sexuelle Lust erfahren als die Männer. Das frustriert sogar manche unserer Begleiter. Es ist eine matriarchalische Welt.“
Über 300 solcher Clubs, die zwischen 50 und 150 Euro Eintritt pro Abend kosten, existieren landesweit. Viele der Paare begegnen sich vorab auf dem Portal netechangisme.com, das pro Tag 300.000 Besucher zählt. Der französische Markt für Vermittlung von Sexualpartnern floriert. Zuletzt sorgte der Anbieter gleeden.com für Aufsehen, weil das „Seitensprung-Portal“ Verheiratete zusammenführt, die sich besonders diskret und unverbindlich kennenlernen wollen. Katholische Familienverbände gehen derzeit gerichtlich gegen das Unternehmen vor. „Die selbst ernannten Hüter der Moral ziehen nach der Homo-Ehe und der Prostitutionsdebatte in ihren nächsten Kampf“, kommentiert das Welzer-Lang. Und das Verfahren gegen Strauss-Kahn könnte diesem Kampf noch einigen Rückenwind geben.
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