Zeitgeschichte: Ein Obelisk für die Toten von Stukenbrock
Nachkriegsgeschichte 1945: 65.000 sowjetische Kriegsgefangene werden im Lager Stukenbrock zu Tode gequält. Zu ihrem Gedenken entsteht ein Obelisk, von dem aber später nur ein Torso bleibt
Da ist dieses rätselhafte Foto: In einer weiten, friedlichen Frühlingslandschaft versammelt sich eine große Menschenmenge. Männer in Uniformen, in Arbeits- und Häftlingskleidung stehen dicht gedrängt. Hinter ihren Rücken liegt ein frisch angelegtes, mit Holzkreuzen markiertes Gräberfeld, Reihe um Reihe. Überragt werden Männer und Gräber von einem haushohen Denkmal. Auf breitem Steinsockel ein heller Obelisk, umfasst von drei großen roten Sternen und mit einer gläsernen roten Fahne gekrönt. Wo sind wir da? Und zu welcher Zeit?
Es ist der 2. Mai 1945, immer noch Krieg, sechs Tage vor der bedingungslosen Kapitulation. Und der Ort heißt Stukenbrock, unweit von Detmold und Paderborn. Er trägt zu diesem Zeitpunkt den
punkt den Namen Stalag 326 (VI K). Eines von 19 Lagern dieser Art im Deutschen Reich, bisweilen das größte. Über 300.000 sowjetische Kriegsgefangene werden zwischen 1941 und 1945 hierher deportiert. Auf dem Foto stehen amerikanische Soldaten und sowjetische Häftlinge zusammen, Befreier und Opfer. Sie beklagen mit dieser Zeremonie 65.000 Tote und erinnern an vier Jahre Hunger, Epidemien, Folter, Tod, Kampieren in Erdhöhlen und Baracken, aber sie feiern auch. Sie feiern den Tag ihrer Befreiung durch die 2nd Armored Division, und sie feiern den Obelisken, den sie aus eigener Kraft in nur vier Wochen erdacht und errichtet haben als erstes Denkmal für sowjetische Kriegsgefangene auf deutschem Boden, während in Berlin noch der Endkampf tobt. Das rätselhafte Foto ist eine Momentaufnahme vom Ende des Weltkriegs mitten in Deutschland, 77 Jahre alt.In der vorderen Reihe, auf dem Foto nicht zu sehen, stehen auch Kinder, „minderjährige Zwangsarbeiter“. Einer von ihnen ist Wladimir Naumov, 13 Jahre alt. 1943 wurde er als Elfjähriger aus Smolensk nach Brackwede verschleppt in die Textilfabrik Bleiche AG, die über eines der vielen Nebenlager von Stalag 326 verfügte – Wladimir war der Jüngste. Nach der Befreiung durch die Amerikaner im April 1945 kam er ins Lager Augustdorf und von dort am 2. Mai nach Stukenbrock. „Ich erinnre mich noch gut“, schreibt er in seinen Memoiren, „an die feierliche Zeremonie am Monument, an die Reden der ehemaligen Gefangenen des Stalags und der Vertreter der amerikanischen Heeresführung, den zeremoniellen Aufmarsch der amerikanischen Soldaten und die Salutschüsse für die Toten“. Wie die meisten Überlebenden bleibt auch Wladimir Naumov noch Wochen im Lager – es sei zu einer sowjetischen Insel auf deutschem Boden geworden, schreibt er. „Wir hörten Radio Moskau … erfuhren vom Fall Berlins, vom Selbstmord Adolf Hitlers, vom Ende des Krieges und von unserem Sieg.“ Man habe mit Ungeduld auf Rückkehr in die Heimat gewartet. Im Juli 1945 wird das Lager von den Amerikanern an die Britische Rhein-Armee übergeben. Aus Stalag 326 (VI K) wird CIC 7, das Civil Internment Camp 7, für deutsche „Hauptschuldige bis Minderbelastete“. Unter denen, die kommen, sind die Gauleiter von Pommern, Kurhessen, Schleswig-Holstein und Stettin.Zur gleichen Zeit verlassen die ehemaligen sowjetischen Gefangenen in Konvois Stukenbrock. Am 28. Juli 1945 wird das „russische Lager“ offiziell aufgelöst, auch Wladimir Naumovs Konvoi überquert bei Magdeburg die Demarkationslinie zwischen der englischen und sowjetischen Zone. Er erinnert sich, dass der Schlagbaum hochging. „Wir sehen schon die sowjetischen Soldaten und fühlen uns fast zu Hause, wir rufen laut ‚Hurra‘, und plötzlich sehen wir, wie unsere Soldaten als Antwort schweigend mit den Fäusten drohen. Darauf folgten Verhöre, Überprüfungen, Filtration …“ – Der 13-Jährige darf zwei Monate später zu seinen Eltern nach Moskau, die meisten anderen Rückkehrer aber verschwinden in Gefängnissen und Gulags. Es beginnt keine glückliche Heimkehr, sondern für die allermeisten eine „Deportation nach Hause“. Wladimir Naumov: „Hart empfing die Heimat ihre Landsleute, die ehemaligen Sowjetsoldaten, die bis zum Sieg überlebt hatten und aus der faschistischen Gefangenschaft zurückgekehrt waren. Stalins Satz ‚Für uns gibt es keine Gefangenen, für uns gibt es nur Vaterlandsverräter‘ bestimmte jahrelang das Verhältnis zu den Kriegsgefangenen wie auch zu den ehemaligen Sklaven des Faschismus … Das musste man aushalten, das musste man überleben. Ich hatte Glück.“ Naumovs Glück bestand darin, auf die Oberschule gehen und studieren zu dürfen. Er wurde Professor für theoretische und experimentelle Physik in Moskau.1948 wurde aus Stukenbrock ein Flüchtlingsaufnahme- und Durchgangslager, übernommen vom Sozialministerium in Nordrhein-Westfalen, betreut von Caritas, Evangelischem Hilfswerk, Rotem Kreuz und Arbeiterwohlfahrt. 1970 dann waren die Baracken leer, das Anwesen ging an die nordrhein-westfälische Landespolizeischule. Vom Stalag blieben der Friedhof und sein Denkmal, der Obelisk mit den drei roten Sternen und der roten Fahne aus Glas – eine besondere deutsche Nachkriegsgeschichte bis auf den heutigen Tag. Immer wieder versuchten die Behörden, die Gedenkstätte – wie die Überlebenden sie gestaltet hatten – verschwinden zu lassen. „Das Denkmal auf dem Russenfriedhof ist unser Sorgenkind“, schrieb am 8. Mai 1956, auf den Tag genau elf Jahre nach Kriegsende, der Amtsdirektor der zuständigen Gemeinde Schloss Neuhaus. „Wir hatten vorgeschlagen, das reparaturbedürftige Denkmal zu entfernen und ein neues, einfaches wieder zu errichten. Da gegen diesen Plan Bedenken bestanden, wollten wir die Reparatur des Denkmals vornehmen unter Fortlassung der Inschriften und der sowj. Embleme. Wir hatten diese Art von Reparatur fast durchgeführt und anstelle der sowj. Sterne das griechische Balkenkreuz gesetzt, als die russ. Kommandantur bei den englischen Dienststellen Einspruch einlegte.“ Britische und sowjetische Offiziere vereinbarten schließlich mit deutschen Regierungsvertretern, dass Inschriften und Embleme wieder angebracht werden mussten. Doch war die rote Fahne aus Glas angeblich zerbrochen und wurde durch ein orthodoxes Kreuz ersetzt – trotz des Einspruchs vieler Überlebender und sowjetischer Offizieller. Um 1964 herum kam es dann zur Aktion „Baumbepflanzung“, die sich im Amtsvermerk so darstellte: „Es war vorgesehen, das von den russ. Kriegsgefangenen errichtete Denkmal so zu umpflanzen, dass niemand mehr herumgehen kann. Es zeigt sich aber, dass Besucher des Friedhofs, wie die zertretenen Pflanzen beweisen, das Denkmal von allen Seiten besehen und die Inschriften lesen wollen.“Diese Besucher waren eine besondere Spezies: Kirchenleute, Kommunisten, später DKP-Mitglieder, Friedensaktivisten, Jungsozialisten und einige Gewerkschafter. Sie gründeten einen Arbeitskreis, der die Gedenkstätte des Stalags so erhalten wollte, wie das dem Aufruf und Mahnmal der überlebenden Gefangenen vom Mai 1945 gerecht wurde: „Und sorget Ihr, die Ihr noch im Leben steht, dass Frieden bleibt, Frieden zwischen den Menschen, Frieden zwischen den Völkern!“ 1967 rief der Arbeitskreis erstmals zur Gedenkfeier am Obelisken auf. Dem Aufruf folgten zusehends mehr Teilnehmer, 1970 an die 5.000, auch das ein Teil westdeutscher Nachkriegsgeschichte. Der Friedhof verwandelte sich in ein Blumenmeer, es entstand der Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“. Ein poetischer Name für eine unermüdliche, widerständige, vielfach angefeindete Arbeit einer kleinen zivilgesellschaftlichen Gruppe gegen die mächtige Politik, die aufs Vergessen statt auf Versöhnung und Frieden setzte und setzt.Am 3. September 2022 spricht der Schauspieler Rolf Becker in Stukenbrook. Im Aufruf heißt es: „Niemandem darf es gestattet werden, völkerrechtswidrige Kriege zu beginnen oder zu unterstützen! Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein gravierender Bruch des Völkerrechts … Nicht Waffenlieferungen, nicht Hass auf andere Völker helfen, Frieden zu schaffen, sondern nur das ernsthafte Bemühen um Interessenausgleich und die Respektierung des Völkerrechts durch alle!“
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