Betonköpfe

Leseprobe Anlässlich des Trubels um Jérôme Boateng nach der WM 2014 fragt der Autor nach dem Umgang der Deutschen mit Fußballstars „ausländischer“ Herkunft
Ausgabe 12/2017
Jimmy Hartwig, vor dreißig Jahren Weltstar in Hamburg
Jimmy Hartwig, vor dreißig Jahren Weltstar in Hamburg

Foto: Ferdi Hartung/Imago

Gewachsen auf Beton steht dort, auf der Brandmauer über der Kreuzung, an der die Pankstraße auf die Badstraße trifft, Kernwedding. Darunter ein Matratzenladen, ein arabischer Imbiss, Leuchtreklamen. Über dem Schriftzug die Köpfe der Jungs, die hier gewachsen sind, auf diesem Beton, einem Boden also, der härter ist als der Boden woanders. Beton heißt ja, dass es gleich richtig eklig wird. Wenn du fällst.

Drei Brüder wurden dort an die Wand gemalt. Sie alle haben denselben Vater, sie kommen von hier. Ihre Wege haben sich vor Jahren schon getrennt. Sie alle aber tragen noch immer denselben Nachnamen. Boateng, schwarz auf Mauer. Und es ist nun mal so, dass man Boateng gar nicht ohne Beton schreiben kann.

George, der älteste von ihnen, ist immer noch hier. Sitzt an der Ecke am Dönerladen, tauscht breite Gesten mit noch breiteren Freunden. Er ist hier an der Panke, dem Fluss, ein Weltstar. Weddinger Junge, geblieben. George hat früher mal Kampfhunde gezüchtet und ist heute tatsächlich Rapper, einer, der im Takt der Straße wippt. Nennt sich BTNG, als hätte er die restlichen Buchstaben im Kampf verloren. Es ist ein löchriger Name, brüchig. Kopf, Stein, Pflaster. Der Wedding ist eben kein Ort für Vokale. Berlin heißt hier ja auch BLN, weil Abkürzungen den schnellsten Weg hier raus versprechen und gleichzeitig vom Stolz erzählen, nicht rauszumüssen.

Und es ist nun mal so, dass die Geschichte dieser drei Brüder auch gleich von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Aufstiegs erzählt, von den verschiedenen Chancen, die man hat, wenn das Leben auf Beton beginnt, zwischen den Häuserschluchten. Wenn die Leute dahin kommen, wo wir aufgewachsen sind, hat Kevin-Prince einmal gesagt, werden sie sehen: Entweder du wirst Gangster und Drogendealer. Oder eben Fußballspieler!

George Boateng saß irgendwann im Gefängnis, er hat sich am Leben durchaus die Zähne ausgebissen, davon handelt nun seine Musik. Er ist ein Außenseiter geblieben, einer, dem die Straße anhaftet. Kevin-Prince hingegen hat es bis in die Champions League geschafft und sein Talent doch verschleudert. Er hatte ja alles, um der Posterboy eines neuen Deutschlands zu werden. Er aber, zu viel Hitze im Kopf, wurde eher dessen Antithese. Er war dann doch zu böse für ein gutes Ende. Zu sehr Wedding, zu viel Beton.

Ein dunkelhäutiger Held

Jérôme aber, der jüngste Bruder, der stillste wohl auch, ist im Juli 2014 Weltmeister geworden. Mit Deutschland. Die Heldengeschichte aus dem Wedding. Mehr als Weltmeister geht schließlich nicht. So ein Hackentrick ist immer nur die Schönheit des Moments, vergänglich, Weltmeister aber bist du für immer. Ein dunkelhäutiger Held, das war im Grunde keine Schlagzeile mehr wert. Dachte man.

Bis im Sommer 2016, zwei Jahre später, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung jenen Satz des AfD-Politikers Alexander Gauland veröffentlichte, der, kaum ausgesprochen, ein Eigenleben entwickelte, durch das Land fuhr. Die Leute, hatte Gauland über Boateng gesagt, finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.

Später versuchte er sich bei Anne Will noch zu retten. Weil er doch gar nicht gewusst habe, dass Boateng farbig sei. Zu diesem Zeitpunkt aber wusste man ja längst, welche Farbe die Gedanken Alexander Gaulands haben, und ohnehin war dieser Satz da bereits einmal durch die Gegenwart gerauscht, einmal durch das Internet gezogen worden. Auf Twitter entstand das trotzige Hashtag #boatengsnachbar. Gauland, der alte Mann in Tweed, verhöhnt mit jedem neuen Tweet.

Und aus Jérôme Boateng, dem Weltmeister aus dem Wedding, war in wenigen Tagen eine politische Figur geworden. Das allein hätte ja gereicht. Dann aber kam zur Politik noch der Sport hinzu. Dann begann die Europameisterschaft in Frankreich und Boateng turnte im ersten Spiel gegen die Ukraine einen unmöglichen Ball von der Linie, ein Akrobat im Flug, ein Kunstwerk, in die Nacht von Lille getanzt. Danach lag er in den Maschen und wieder jubelte das Netz, war doch diese Einlage nur ein weiterer Beweis dafür, wie sehr dieses Deutschland einen wie Boateng brauchte. Der gute Nachbar hatte ein Bild erschaffen, das nun neben dem Gauland-Satz im Internet hing.

Im Halbfinale schließlich verletzte er sich und auch deshalb gab es kein neues Sommermärchen für die deutsche Nationalmannschaft. Sein Sommer aber begann danach erst so richtig. Im August wurde er ins Kanzleramt eingeladen, für ein Interview mit Angela Merkel. Sie stellte die Fragen. Und nannte ihn dann Jeromy. Was jedoch auch nicht weiter schlimm war, so ein Name aus Ghana, das ist eben immer noch Neuland. Und Anfang September schließlich wurde Boateng vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller in Berlin der Moses-Mendelssohn-Preis verliehen, für besonderes soziales Engagement. Es waren Wochen, in denen er den Eindruck erweckte, er könne bei Bedarf auch über Wasser gehen. Alexander Gauland, daheim auf seinem Potsdamer Seegrundstück, dürfte dies mit Sorge zur Kenntnis genommen haben.

Und schließlich, am Ende dieses Sommers, nach dem Abschied von Bastian Schweinsteiger, stand die Frage im Raum, ob dieser Boateng, Symbol und Sympathieträger, nicht auch gleich der neue Kapitän der Nationalelf werden sollte. Auch das, dieses Amt, ein Statement. Er wurde es dann nicht, weil hinter ihm noch Manuel Neuer steht, der Deutschen wirklich liebster Nachbar. Aber es war eine großartige Geschichte, dass überhaupt darüber gesprochen wurde. Denn Jérôme Boateng wäre der erste farbige Kapitän der Nationalmannschaft gewesen. Uns Jérôme, ein Kaiser aus Ghana.

Zum Autor

Lucas Vogelsang wurde 1985 in Berlin geboren. Er hat u. a. für den Tagesspiegel, den Playboy und Die Zeit gearbeitet und ist heute Autor für Die Welt und Welt am Sonntag. 2010 erhielt er den Henri-Nannen-Preis und 2013 den Deutschen Reporterpreis. Für eine Reportage über seinen Block im Berliner Wedding wurde er 2015 beim Hansel-Mieth-Preis ausgezeichnet

Foto: Philipp Wente

Es ist jedoch noch gar nicht so lange her, da wäre genau das undenkbar gewesen. Da war der Schwarze im weißen Trikot noch exotische Ausnahme, nicht gefeiert, eher geduldet. Kritisch beäugt durch die noch sehr dicken Flaschenbodengläser eines Deutschtums, das eher Augen für die Gegenwart hatte als Träume für die Zukunft. Der Krieg war kalt und Helmut Kohl gerade Kanzler geworden. Und die Männer, denen die deutschen Herzen gehörten, hießen tatsächlich noch Kalle oder Jürgen oder Lothar. Vornamen wie Schnauzbärte, Spitznamen wie die Frisuren und die Taktik, vorne kurz, hinten lang.

Was aber machte einer zu jener Zeit, der Hautfarbe und Haarpracht des Vaters, aber die Sprache der Mutter geerbt hatte, der zum Namen des Großvaters stolz seinen Afro trug, einer also, der kaum zu vereinbaren war mit diesen Achtzigerjahren, diesem Saumagenjahrzehnt.

Ich möchte genau das herausfinden und deshalb fahre ich an einem Tag im Frühjahr vom Bahnhof Gesundbrunnen aus nach Bayern.

Dort wohnt Jimmy Hartwig, vor dreißig Jahren Weltstar in Hamburg und nach Erwin Kostedde der zweite farbige Spieler in der Nationalmannschaft. Gewachsen auf einem ganz anderen Beton, im Gastarbeiterviertel von Offenbach. Auch das ein hartes Pflaster, Kopfbälle auf Steinplätzen. Um zu Jimmy Hartwig zu gelangen, muss ich über die Dörfer. Sie klingen wie die Wahlkampfstationen Edmund Stoibers, als er noch große Politik machen wollte, oder wie die Trainerstationen Klaus Augenthalers, nachdem ihn der große Sport bereits vergessen hatte.

Unterpfaffenhofen

Geisenbrunn

Neugilching

Was ja nicht einfach nur Bayern ist, sondern so sehr Bayern, dass es gleich Oberbayern heißt. Das hier ist Festzeltdeutschland, Überlanddeutschland, vergisst man ja von Berlin aus immer, dass es das auch noch gibt. Zweigleisige Bahnhöfe, eingleisige Ansichten. Am Bahndamm die Lächelgesichter und die Dirndlerotik der CSU-Plakate, Seehoferkernland. Aber auch Idyllenbayern. Ein Land, in dem es nur an jenen Tagen Wirtschaftskrisen gibt, an denen die Wirtschaft geschlossen hat.

Mitten in Bayern

Irgendwann hält die Bahn und es geht mit dem Bus weiter. Und wir merken uns, Provinzwahrheit: Je langsamer das Verkehrsmittel, umso näher das Ziel. Dieses Land hat auch ein ganz anderes Licht. Ein Leuchten über schwungvollen Brezeln über geschmückten Türen. Nächster Halt: Etterschlag Am Anger. Das gibt es sicher auch als Süßspeise.

Draußen also Speisekartendörfer, der Himmel leuchtend im Freistaatmuster, strahlend blau und weiß. Und drinnen im Bus laufen die kommenden Stationen über einen Bildschirm, laufen dort auch, ein Spruchband darunter, die Eilmeldungen aus den Agenturen: Drei weitere Festnahmen in Brüssel. Mehrere hundert Flüchtlinge verlassen das Lager in Idomeni. Es sind hier, mitten in Bayern, auf dem Land, erst einmal Nachrichten aus einer anderen Welt. Weit weg.

Bis der Bus hält, Inning am Ammersee, und dort Jimmy Hartwig steht. Da rückt mit einem Mal alles zusammen, ist es ganz nah. Idomeni am Ammersee, Jimmy Hartwig trainiert hier, in dieser Kleinstadt, eine Flüchtlingsmannschaft. Und empfängt mich in Deutschlandtrikot und Deutschlandtrainingsanzug. Er durfte ja nur zwei Länderspiele bestreiten, wegen Rassismus, sagt er. Das nagt bis heute an ihm. Deshalb hat Jimmy Hartwig sein ganzes Leben zu einem Länderspiel gemacht.

Ein deutsches Leben hatte die Thüringische Allgemeine das einmal genannt. Ein Leben, in dem sich tatsächlich unsere Geschichte spiegelt, unsere Vorurteile und Abneigungen. Eine Kindheit, in der er erst einmal nichts zu suchen hatte, nicht dazugehören durfte. In der er sich rechtfertigen musste, dafür, dass er da ist, dass es ihn überhaupt gibt. Es ist das Motiv, das sich durch all seine Erzählungen und Aufführungen zieht. Nicht mitmachen dürfen, Randfigur, Vollidiot.

Und jeder Tag begann mit einer Ohrfeige. Hartwig läuft nun durch die Gassen von Inning, immer noch ein Mann wie ein Zweikampf, ein gewaltiger Typ, der aber mit einem freundlichen Gruß, beiläufig über den Zaun geworfen, jedes Grobe beiseitewischt. Jimmy Hartwig umarmt mit seiner Stimme, da hilft ihm der Dialekt. Dieses Bembelhessische, Äppelwoideutsche, das immer so harmlos humpelnd daherkommt. Das hat er nie abgelegt, er trägt die Heimat im Zwerchfell.

Das Blechbüchsenviertel in Offenbach. Kirschenallee, sagt er. Da wussten die Leute immer gleich, woher du kommst. Wussten, was du für einer bist. Der Stempel im Gesicht. Er ist dort als Sohn einer Deutschen und eines schwarzen GI zur Welt gekommen, 5. Oktober 1954.

Jeden Tag eine Ohrfeige

Drei Monate nachdem Deutschland in Bern zum ersten Mal Weltmeister geworden war, Rahn aus dem Hintergrund geschossen hatte. Hineingeboren also in ein Land, das im Angesicht seiner neuen Wunder, im Fußball und in der Wirtschaft, auch ein neues Selbstvertrauen entwickelte, zu sich selbst zu finden schien. Fritz Walter und Ludwig Erhard waren die Väter, Zigarre und Pokal die Insignien einer neuen Zeit. Und bei Jimmy Hartwig daheim saß der Großvater und konnte das alles nicht glauben. Saß dort und trauerte dem Führer hinterher. Er hatte den Hass hinübergerettet in ein neues Jahrzehnt, einen braunen Höllenhund, den er im Stechschritt Gassi führte und, wann immer er konnte, von der Leine ließ. Auf seinen Enkel hetzte.

Der Großvater, sagt Hartwig, war ein richtiger Nazi. Mit Parteiabzeichen, bei der Wehrmacht, Marine. Die Dönitzabteilung. Ich habe ja die Hakenkreuze gesehen, in seinem Zimmer. Die Orden, den Stolz. Sie lebten damals, er, die Mutter und der Großvater, auf engstem Raum. Dort war es unmöglich zu entkommen.

Jeden Morgen musste Jimmy Hartwig antreten zur Pflichtohrfeige. Ein schallender Appell, zur Erinnerung daran, nichts wert zu sein, ein Niemand nur. Der Großvater schlug ihm ins Gesicht, bis ihm das Blut über die Oberlippe lief. Geh weg, sagte der alte Mann, du Bastard. Du gehörst hier nicht her.

Hartwig spricht nicht oft über den Großvater, aber wenn er es doch tut, wird die Stimme brüchig, leiser. Ungewohnt fast, weil aus dem Mann ein Kind wird. Meine größte Herausforderung war es, sagt er nun, gegen meinen Großvater zu bestehen. Ein ungleicher Kampf, die erste Ungerechtigkeit. Jede Ohrfeige auch ein Frontalzusammenstoß mit der deutschen Geschichte, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Krieges. Das ist, sagt er, natürlich auch mein Deutschland gewesen. Mit einem Großvater, der immer dachte, der Adolf kommt da vorn gleich wieder um die Ecke.

Er selbst, der Jimmy, dieses Kind eines Schwarzen, braune Haut, krauses Haar, muss deshalb auch die denkbar größte Beleidigung für den Großvater gewesen sein. Ein fünfjähriger Mulatte statt eines tausendjährigen Reiches.

Und draußen auf der Straße saßen ähnliche alte Männer, Kriegsheimkehrer wie der Großvater, Veteranen des eigenen Irrsinns, die großdeutschen Zerrbilder noch sauber in der Brieftasche, Philatelisten des einstigen Größenwahns. Die Nachbarn, sagt Jimmy Hartwig, standen da, auf dem Gehsteig vor dem kleinen Lebensmittelladen, und kultivierten Blicke voller Abscheu. Zischten die Worte, die sie einst mit Inbrunst in jeden Himmel zwischen Nürnberg und Berlin gebrüllt hatten. Frühe Greise, die auf Bänken saßen und auf den Zeitläuften kauten, sie ausspuckten, wie sie auch ihren Kautabak ausspuckten, als braune Soße, die sich schließlich im Rinnstein sammelte.

Bei Adolf, sagten sie, hätte es das nicht gegeben, dass hier ein Neger bei uns rumläuft. Und auf dem Schotter der Bolzplätze riefen die Kinder, die mit den Jacken und Schuhen der Väter auch deren Gedankengut angezogen hatten, mit jener Gehässigkeit, die nur Kinder beherrschen: Negerschwein. Die Verachtung, sie war der Chor, der Begleittext seiner Kindheit.

Dazu kam das Gefühl, nicht gut genug, nicht einmal ausreichend zu sein. In der Schule kam er nicht mit, war zu langsam, hinkte hinterher. Die Lehrer hielten ihn für einen ausgemachten Schwachkopf, der dumme Bimbo, und schickten ihn auf eine Sonderschule. Auf dem Platz, der Asche des Viertels aber, war er schneller als die meisten. Und er kämpfte, härter als der Rest. Ich war, sagt er, ein richtiges Gossenkind, einer von der Straße. Es ist die gute alte Geschichte vom Fußball als Chance, als Lebensretter wohl auch.

Meine Vergangenheit, sagt er, hilft mir heute. Jimmy Hartwig ist mittlerweile Integrationsbotschafter des DFB, er fährt durch Deutschland, spricht an Schulen, ist ständig unterwegs. Im Gepäck die Geschichten vom Großvater. Und die vom Negerschwein. Ich erzähle den Kindern dann immer, sagt er, dass ich mich in meinem eigenen Land integrieren musste. Das ist doch schon mal eine Hausnummer. Du bist hier geboren und musst dich trotzdem rechtfertigen, für deine Hautfarbe, deine Herkunft. Dabei war er doch einer von um die Ecke. Der Jimmy aus der Kirschenallee.

Deshalb, sagt Jimmy, biete ich mich doch an für diese Integrationssachen. Deshalb hat er auch gleich zugesagt, als sie ihn hier im Dorf gefragt haben, ob er das machen will. Mit den Flüchtlingen Fußball spielen. Natürlich wollte er das machen.

Als wir an diesem Nachmittag mit seinem Auto an der Sporthalle ankommen, hat das Wetter umgeschlagen, nichts ist mehr übrig vom Freistaatsonnenschein des Vormittags, der Regen fällt dicht, dazu treibt ein plötzlicher Sturm die Tropfen vor sich her. Jimmy Hartwig kämpft sich durch das Wetter, vor der Halle warten drei junge Männer. Zwei Afghanen, einer aus Eritrea. Servus, sagt Jimmy Hartwig. Servus, sagen sie. Tragen nur T-Shirts, einer ist barfuß. Hartwig stellt sich dazu, kurzes Schweigen, eine vorübergehende Sprachlosigkeit, die er aber sogleich durchbricht. Sorry, sagt er, ich habe vor vier Jahren aufgehört, Arabisch zu lernen, seitdem kein Wort mehr gesprochen. Natürlich Unsinn, Hartwigmärchen, Dehnübungen seiner Phantasie.

Und darum beendet er diesen Satz mit einem dröhnenden Lachen, das sich sofort in den Gesichtern der Jungs spiegelt.

Jimmy Hartwig hat ja diese Alfred-E.-Neumann-Zahnlücke, ihm gelingt es deshalb auf verblüffende Weise, durch die Vorderzähne zu lachen, was immer gleich einen leichten Pfeifton erzeugt, Hartwig lacht und pfeift, er ist dann gern auch sein eigenes Publikum. Die Jungs lachen jetzt auch, lustiger Typ, dieser Jimmy.

Dann kämpft sich der Nächste durch den Regen, bis er Zuflucht findet unter dem Dach der Sporthalle, in der Begrüßung Jimmy Hartwigs.

Ich bin Jusuf, sagt Jusuf, ich komme aus Afghanistan. Ich bin Jimmy, sagt Jimmy, ich komme aus Deutschland.

Er klopft sich auf das Wappen auf seinem Trikot, völkerverständlich.

Und weil noch immer Zeit ist und vor dem Dach der Regen nicht nachlässt, erklärt der Jimmy den Jungs aus Afghanistan und Eritrea jetzt mal eben die Sache mit dem Wetter und im Grunde auch gleich noch dieses Deutschland an sich. Sagt also, Finger in den Himmel: So eine Scheiße.

Sagt, englisch auf Hessisch: Äbril, rain, sun, snow.

Sagt: Dschulei, swimming Ammersee.

So einfach ist das.

Die Jungs nicken. Servus, sagt der Nächste. Und Jimmy Hartwig sagt: Aleikum salaam. Weil sich das so gehört, hier in Inning. Der Rest ist das große Kauderwelschtheater des Jimmy Hartwig, der, obwohl er kaum Englisch spricht und sowieso kein Arabisch, keinen Übersetzer braucht, keinen Sprachmittler, er macht das aus dem Bauch heraus. Ein Geschichtenerzähler, der den Zweikampf sucht, den Körperkontakt mit den Jungs, eine Umarmung, ein spielerisches Tänzeln. Jimmy Hartwig gibt jetzt den wankenden Boxer, den angeschossenen Bären. Er spricht mit den Händen, mehr aber noch, er hat ja immerhin zwei Länderspiele, mit den Füßen. Und aus den Gesichtern der jungen Männer, frierend im bayrischen Regen, weicht die Unsicherheit.

Deutsch first, Fußball second

Es ist 15:30 Uhr, Bundesligaanstoßzeit, als sie vollzählig sind, endlich in die Halle dürfen, lachend noch, durchnässt, kein Auge trocken. Kurz bevor das Spiel beginnt, versammelt Jimmy Hartwig noch einmal alle in der Mitte der Halle. Kurze, klare Ansprache. Weil ihm zu Ohren gekommen war, dass einige der Jungs den Deutschunterricht am Vortag geschwänzt hatten, wird Jimmy Hartwig für ein paar Sekunden ganz ernst.

Er sagt nur zwei Sätze. Hartwig-Sätze, die im Grunde auch die Essenz seines Lebens sein könnten. Die Wahrheit nach 60 Jahren Bundesrepublik.

Deutsch is first.

Fußball is second.

Versteht ihr? Anderständ? Ganz einfach, sie nicken. Verstanden. Dann wirft der Jimmy den Ball in die Mitte und auch sie sprechen mit den Füßen, eine Stunde lang. Jimmy Hartwig steht am Rand, die Arme verschränkt, und denkt über den Fußball nach. Über die eigene Karriere und was die eigentlich bedeutet für das Deutschland von heute, für die Graffitigesichter der Gegenwart.

Er hatte es damals bald rausgeschafft aus dem Blechbüchsenviertel, raus aus seiner Gosse. Ging zu den Offenbacher Kickers und danach auf eine lange Wanderschaft. Durch den deutschen Fußball. Spielte bei 1860 München, dem VfL Osnabrück, in Köln und beim Hamburger SV. Der Weg von ganz unten nach ganz oben, mit 24 Jahren war er Millionär. Ein Star, der in der Zeitung steht, einer der besten Mittelfeldspieler Europas. Der Rassismus aber, Negerschwein und Affenlaute, der blieb. Den hatte er nicht abschütteln, hinter sich lassen können. Und es war egal, ob er am Wochenende das Spiel seines Lebens machte, die Sprüche, Worte wie Ohrfeigen, folgten ihm, volksdeutsche Manndeckung. Mir, sagt er, hat man immer versucht, an den Karren zu pissen.

Als er noch das Trikot der Offenbacher Kickers getragen hatte, war ihm von den Rängen des Gegners, besonders in den Derbys mit Eintracht Frankfurt, ein Schlachtruf entgegengeschlagen, den er bis heute nicht vergessen hat. In weichstem Hessisch, was es ja gleich noch härter macht. Zehn Schwule und ein Nigger, die Offenbacher Kigger. Das Echo ist noch heute am Ammersee zu hören, es hallt bis in die Gegenwart. Hass, geht ins Ohr, bleibt im Kopf.

Hass bleibt im Kopf

Seine größte Niederlage ist deshalb bis heute die Zurückweisung durch den Bundestrainer geblieben. Das habe ich nie verstanden, sagt er und erinnert sich an diese eine Unterhaltung mit Jupp Derwall, im Flugzeug, auf einer der beiden Länderspielreisen. Ich glaube, sagte er damals zu seinem Bundestrainer, ich gehöre in die Nationalmannschaft. Derwall sagte nur: Hartwig, bei mir bist du nicht erste Wahl. Es gab keine weitere Begründung, aber die brauchte ich auch nicht. Das war halt ein Bundestrainer, sagt er, der noch im Krieg geboren wurde. Ich meine, Sepp Herberger hat sich auch nicht vorstellen können, einen dunkelhäutigen Nationalspieler zu haben. Das ist seine Erklärung, mit dem Abstand der Jahrzehnte.

Für Jimmy Hartwig aber war dieser Satz Jupp Derwalls damals die nächste Ohrfeige eines alten Mannes. Die Heimat, die ihn nicht wollte. In Deutschland, so klang das natürlich, bist du nur zweite Wahl. Vielleicht ging es um die Qualität, vielleicht passten andere, die blonden Förster-Brüder etwa, besser hinein in das Schnauzbartteam, vielleicht aber war er einfach zwei Jahrzehnte zu früh dran. Erwin Kostedde und meine Wenigkeit, sagt Jimmy Hartwig jetzt am Rande des Spiels, waren unserer Zeit weit voraus. Wir haben ein paar Türen aufgemacht, nicht weit, aber schon weit genug, um durchgucken zu können. Um zu sehen, was da alles noch kommt. Wir haben diese Tür einen Spaltbreit aufgestoßen für Spieler wie Jérôme Boateng. Das ist ihm wichtig, das ist sein Erbe in diesem Sport. Etwas, das bleibt, auch in der Gesellschaft. Etwas, das er sich als Botschafter in seinen Briefkopf schreiben könnte. In gewisser Weise ist Jimmy Hartwig auch ein bisschen Weltmeister geworden, damals in Rio. Im Rücken von Jérôme Boateng. Es hat ihn rückwirkend legitimiert.

Und deshalb gibt es jetzt von Jimmy Hartwig auch noch ein paar echte Integrationssätze, Botschaftersätze, die er allgemein spricht, die aber bis in den Wedding zu hören sind. Eine deutsche Mannschaft mit zwei Polen, einem mit ghanaischem Vater, einem mit türkischen Eltern, sagt er, in den Achtzigern war das doch unvorstellbar. Und der Khedira, der ist Tunesier. Überleg mal. Heute ist das normal. Aber, sagt er, es geht doch auch gar nicht anders. Wer jetzt noch meint, er könne nur mit den Deutschen von früher spielen, Männern mit blonden Haaren, blauen Augen, das ganze Arierballett, der soll nach Sibirien fahren. Oder in die Ukraine. Ende der Durchsage, Ende des Spiels. Die Jungs verschwinden in der Kabine, Hartwig wartet davor.

Er ist heute eingeladen, zum ersten Mal überhaupt, in die Container, die oberhalb der Sporthalle vor saftig grünen Auen stehen. Eingeladen in das Zuhause der Jungs. Es soll Tee geben und Kuchen, wir laufen gemeinsam die sanfte Anhöhe hinauf. Eine seltsame, verschwitzte Karawane. Jimmy Hartwig humpelt ein wenig, das Knie.

Zwischen den Containern wird er tatsächlich begrüßt wie ein Diplomat, zu Besuch im Dorf der Hoffnungsvollen. Er tritt durch eine der Türen, Frauen mit Kopftüchern dahinter. Schwestern wohl, Nachbarinnen, sie sind gemeinsam aus Afghanistan gekommen, haben Teile der Familie zurückgelassen, sind deshalb jetzt füreinander da. Guten Abend, servus. Schuhe ausziehen, bitte. Was möchten Sie trinken? Gin Tonic, sagt er, lacht natürlich. Blödsinn. Es gibt Tee, wie versprochen.

Und wieder weiß erst niemand, was er sagen soll, bis Jimmy Hartwig einfach sagt, was ihm so einfällt. Also erzählt er vom Hoeneß, alter Spezi. Uli, der Depp, schöne Grüße. Erzählt von Offenbach, Kirschenallee, das war mein Township. Und fragt ein paar Vokabeln ab, weil ja: Deutsch first, Fußball second. Die Mädchen ziehen sich schüchtern zurück, die älteste Schwester, der große Bruder, ein Nachbar noch und einer der Jungs bleiben am Tisch. Noch eine Runde Tee für den Gast.

Jimmy Hartwig hat nun sein Smart-phone hervorgeholt und zeigt ein paar Videos, zeigt den Afghanen in diesem Containerdorf in Bayern sich selbst als jungen Mann. Beim HSV. Zeigt ihnen schließlich dieses Video, in dem er tatsächlich singt. Calypso, that’s crazy.

Und es kommt, ganz kurz, zu einer seltsamen Umkehrung der Zeit, als würden die Jahrzehnte plötzlich einander überlappen, sich die Vergangenheit noch mal über die Gegenwart schieben. Weil dort nun praktisch der doppelte Hartwig in diesem Container stattfindet. Einer, der am Tisch sitzt und mit den jungen Afghanen Tee trinkt, und einer, der in die Achtzigerjahre hinein singt. Es ist ja so, dass es in den Erzählungen Jimmy Hartwigs gleich mehrere Deutschlands gibt. Das Land des Großvaters, konserviert in Braun und Sepia, das Land seiner Kindheit im Aufbruch, ein Land, das er liebt, und eines, das er verabscheut. Hin und wieder dann begegnen sich diese Länder und dann passiert etwas. Dann ist Jimmy Hartwig doch, für einen kurzen Moment, sehr nah bei sich. Ein Junge aus Hessen, der im Takt der eigenen Erinnerung wippt.

Er verabschiedet sich, die große ausladende Verbeugung des Theatermannes Jimmy Hartwig, Schuhe wieder an. Servus, Aleikum salaam. Draußen dann, die Container zeichnen sich bunt ab gegen das dunkle Grün der Auen in der beginnenden Dämmerung, sagt er schließlich, einfach so: Dieses Land ist absolut geil. Es hat mir alle Möglichkeiten gegeben. Im Negativen wie im Positiven. Ich sage das immer wieder, und ich weiß, ich klinge dann wie ein Rechtsradikaler, aber: Ich bin deutscher als deutsch. Das ist ja die Stärke von mir, sagt er schließlich, dass ich trotz aller Widerstände, die ich erlebt habe, auf dieses Land nichts kommen lasse.

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