Im Jahr 1931 waren die XI. Olympischen Sommerspiele für August 1936 nach Berlin vergeben worden. Aber schon während der Olympischen Sommerspiele 1932 in Los Angeles schien das Internationale Olympische Komitee (IOC) beunruhigt zu sein, dass in Deutschland eine mögliche Machtübernahme durch die NSDAP die Austragung gefährden könnte. Der Antisemitismus und der Rassismus der Nazis waren bekannt. Man musste sich fragen, ob ein freier Zugang ausnahmslos aller Sportler zu den Spielen garantiert sein würde.
Als Hitler dann regierte, fand er zusehends Gefallen daran, Ausrichter von Wettkämpfen zu sein, mit denen sich der Gastgeber in Szene setzen konnte. Doch sollte zumindest für die eigene Mannschaft am „Arier-Prinzip“ festgehalten werden, so dass jüdische Athleten von vornherein verbannt blieben. Damit allerdings konnte und wollte sich das IOC nicht abfinden, besonders in der amerikanischen Öffentlichkeit wurden Stimmen laut, die wegen der Diskriminierung jüdischer Sportler auf einen Boykott der Spiele drängten. Die NS-Sportführung musste insofern zumindest den Anschein erwecken, dass für eine Nominierung des deutschen Teams kein „Arier-Nachweis“ nötig sei – allein die sportliche Leistung entscheide darüber, wer sich qualifiziere und wer nicht. Ungeachtet dessen wurde in den Reihen der SA gesungen: „Wenn die Olympiade vorbei, schlagen wir die Juden zu Brei!“
Der jüdische Sport im nationalsozialistischen Deutschland hatte seit 1933 ein Maximum an Erniedrigung durchlitten: den entehrenden Ausschluss aus der Sportgemeinde, die Entmündigung durch die Reichssportführung, die Überwachung durch die Gestapo. Juden durften nur noch in rein jüdischen Vereinen trainieren und zu Wettkämpfen antreten, so auch die Hochspringerin Gretel Bergmann. Ihr Schicksal zeigt, welche diplomatischen Winkelzüge und sportpolitischen Intrigen es gab, um bis zur Eröffnung der XI. Spiele am 1. August 1936 zu verhindern, dass die Sportlerin an den Start ging.
Bergmann vollbrachte seinerzeit olympiareife Spitzenleistungen im Hochsprung (und Kugelstoßen), dennoch mündete ihr olympischer Traum in einen Albtraum. Die von den Nazis hartnäckig propagierte Überlegenheit der arischen über die „degenerierte jüdische Rasse“ durfte nicht durch „Muskeljuden“ konterkariert werden. Dennoch wurde Bergmann als „deutsche Athletin“ vor den Spielen zur Beschwichtigung kritischer Stimmen im Ausland von den NS-Sportführung demonstrativ nominiert, kurz vor Beginn der Wettkämpfe jedoch unter fadenscheinigen Vorwänden aus dem Team geworfen.
Bereits 1934 hatte Bergmann Deutschland in Richtung Großbritannien verlassen und war noch im gleichen Jahr mit einer Höhe von 1,55 Metern englische Hochsprungmeisterin geworden. In einem geheimen Gestapo-Bericht war davon die Rede, dass jüdische Organisationen die „jüdische Mehrkämpferin Gretel Bergmann“ in London für die Olympischen Spiele vorbereiten ließen, um sie in die „Olympiakernmannschaft“ für das Hochspringen der Damen zu bringen.
„Bauer im internationalen Schachspiel“
In ihrem Lebensrückblick hat Bergmann bitter vermerkt, sie sei damals „Hitlers Alibijüdin“, „Bauer im internationalen Schachspiel“ und „Trumpfkarte beim nationalsozialistischen betrügerischen Poker“ gewesen. Mitgespielt bei diesem unwürdigen Poker hat seinerzeit das amerikanische Nationale Olympische Komitee (NOK) in der Person von Avery Brundage, der zunächst mit Olympiaverzicht drohte, sollten deutsch-jüdische Sportler nicht teilnehmen dürfen, zugleich aber eine verdeckte Allianz mit der NS-Sportführung zur Sicherung der Spiele von Berlin geschmiedet hatte. Es handelte sich lediglich um einen US-Beinahe-Boykott. Tatsächlich erwogen die Amerikaner nie ernsthaft, den Wettkämpfen in der Reichshauptstadt fernzubleiben. Fragen nach Repressionen außerhalb des Sports waren für Brundage ohnehin irrelevant. In seinem Chicagoer Club galt gleichfalls das „Arier-Prinzip“. Überliefert ist die süffisante Bemerkung des späteren IOC-Präsidenten (im Amt 1952 bis 1972), er sei ganz einverstanden mit der Judenpolitik in Deutschland. Als bekennender Antisemit stehe er zum Grundsatz: „Separate but equal.“
Unter der Drohung, falls sie sich weigern sollte, werde gegen ihre noch in Deutschland lebenden Eltern vorgegangen, wurde Gretel Bergmann 1934 nach Deutschland zurückbeordert und in die olympische Kernmannschaft aufgenommen. Ihre Teilnahme an Trainingskursen zusammen mit „arischen“ Athleten sollte sich bald als propagandistisches Manöver und Hinhaltetaktik der NS-Sportführung erweisen. Für die deutschen Leichtathletikmeisterschaften 1935 erhielt sie keine Starterlaubnis. Begründung: Ihr Verein, der vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten getragen wurde, gehöre nicht dem deutschen Leichtathletikverband an. Aus ihrem Heimatverein, dem Ulmer FV, war sie seit April 1933 ausgeschlossen. Jüdische Sportler hatten schon wegen diese Umstände keine Chance, für die Olympiamannschaft nominiert zu werden. Sie galten als „weltanschaulich“ wie „rassisch“ ungeeignet. So wurde auch Bergmann nur so lange im Olympiakader geduldet, bis sicher war, dass die USA an den Spielen teilnehmen.
Sobald der Haupttross amerikanischer Athleten nach Berlin unterwegs war, entledigte sich der Deutsche Leichtathletikverband des „Falls Bergmann“ ebenso kaltschnäuzig wie brutal: Er meldete im Hochsprung der Frauen statt der erlaubten drei nur zwei Teilnehmerinnen. Wobei sich später herausstellen sollte, dass es sich bei einer der beiden Springerinnen um einen Mann handelte (Tests gab es 1936 noch nicht). Dora Ratjen wurde Olympia-Vierte – es sollte bis heute das einzige Mal bleiben, dass bei olympischen Wettkämpfen ein Mann im Frauendress startete. Die Jüdin Gretel Bergmann und die „Arierin“ Dora alias Heinrich Ratjen, zwei Sportlerschicksale, die in ihrem Außenseitertum auf bizarre Weise verbunden waren. Auch das war Berlin 1936.
Als Bergmann kurzerhand mitgeteilt wurde, dass sie wegen „unbeständiger Leistungen“ nicht starten werde, bot ihr die NS-Sportführung als Lohn für ihre „Einsatzbereitschaft“ eine kostenfreie Eintrittskarte für die Leichtathletik-Woche an, ausgestellt auf einen Stehplatz im Olympiastadion. Der Öffentlichkeit wurde suggeriert, Bergmann sei „verletzt“ und könne daher nicht starten. Sie selbst hat die schmähliche Ausbootung kaum je verwunden. Bergmann schwor sich, Deutschland nie wieder zu betreten und die deutsche Sprache ihr Leben lang zu meiden. Vorsätze, mit denen sie erst in hohem Alter brach.
Mit einer Höhe von 1,60 Meter, die sie fünf Wochen vor den Olympischen Spielen unter diskriminierenden Bedingungen gesprungen war, wäre Bergmann in Berlin mit der Goldmedaillengewinnerin Ibolya Czák – einer ungarischen Jüdin – ins Stechen um den Olympiasieg gekommen. Doch verzichteten die Nazis lieber auf Erfolg, statt einmal von ihrem Arier-Fanatismus abzuweichen.
Noch während im Berliner Olympiastadion die besten Leichtathleten der Welt um die Medaillen kämpften, sprach Bergmann beim amerikanischen Generalkonsulat in Stuttgart vor und beantragte ein Visum für die USA. 1937 erhielt sie schließlich positiven Bescheid, konnte in die Vereinigten Staaten ausreisen und wurde dort noch im gleichen Jahr nationale Hochsprungmeisterin sowie 1938 Titelträgerin im Kugelstoßen.
Erst 60 Jahren nach ihrer Emigration besuchte Margret Bergmann-Lambert, wie sie seit 1937 hieß, wieder Deutschland, um 1997 dabei zu sein, als einem Stadion in der Geburtsstadt Laupheim ihr Name verliehen wurde. Als sie 2004 in einem Interview gefragt wurde, wie weit sie bei den Olympischen Spielen in Berlin gekommen wäre, lautete die Antwort: „Gold! Nichts anderes wäre es gewesen. Ich sprang höher, je wütender ich war.“ Sie schob den Satz nach: „Vor 100.000 Menschen zeigen, was ein jüdisches Mädchen vermag, das wäre der Himmel gewesen.“ Gretel Bergmann lebt heute, 102-jährig, in New York.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.