Die Friedenskatastrophe

NAHOST Wenn die Wut ein Ventil findet, fliegen in Palästina wieder die Steine

In Palästina gibt es für die Palästinenser keine Hoffnung mehr. Im Land herrschen Frustration und Enttäuschung über einen Prozess, der den Beinamen "Frieden" trägt. Je länger dieser andauert, desto deutlicher erweist er sich für die Palästinenser als Sackgasse. Er ist die Fortsetzung der "Katastrophe" (al-nakba) von 1948 in "zivilisierterer" Form. Die Menschen sind nicht nur über die Haltung der verschiedenen israelischen Regierungen enttäuscht, sondern in einem viel größeren Ausmaß über die eigene Autonomieverwaltung. Sie hat dem Land eine ausufernde Korruption, Misswirtschaft und ein autoritär-diktatorisches Regime beschert, an dessen Spitze "Präsident" Yassir Arafat steht.

Wie verzweifelt die Menschen sind, zeigt ein offener Brief von 20 Persönlichkeiten, darunter neun Abgeordneten des Legislativrates, dem Parlament der Palästinenser. Darin bringen die Unterzeichner ihre Bestürzung über den Zustand des Gemeinwesens und seiner politischen Klasse zum Ausdruck. Dieser Brief ist eine Bankrott-Erklärung für Arafats Behörde - und eine Kriegserklärung zugleich. Von verletzter Menschenwürde ist hier die Rede, und von den verspielten Rechten des Landes, von Betrug am Volk, von Korruption, Mißbrauch und Erniedrigung. Und im Schlusssatz heißt es: "Die Ungerechtigkeit kann nur gestoppt werden, durch die kollektive Kraft der Unterdrückten." Eine deutliche Kampfansage an Arafat.

Der ra'is und seine Günstlinge haben nun mit harter Hand zurück geschlagen. Acht der Unterzeichner landeten im Gefängnis, Bassam Shakaá, der ehemalige Bürgermeister von Nablus, der durch den Bombenanschlag eines jüdischen Terroristen beide Beine verloren hatte, und der ehemalige Bürgermeister von Anabta, Waheed Alhamdallah, wurden unter Hausarrest gestellt. Die neun Abgeordneten schützt nur ihre parlamentarische Immunität. Das "Parlament" reagierte so, wie es das unter einer Diktatur immer tut: Der Parlamentspräsident Ahmed Qurei kritisierte massiv die eigenen Abgeordneten. Sie hätten "Arafats Namen besudelt, den Mann, der an die Spitze der palästinensischen Behörde vom Volk gewählt worden sei". Qurei gehört ebenfalls zum "System Arafat"; seine Reaktion ist deshalb nicht überraschend.

Warum solch ein Brief, warum jetzt? Nachdem die Oslo-Dokumente unterschrieben waren, reiste Arafat in die europäischen Hauptstädte und verbreitete die Legende von der Schaffung eines Palästina-Staates, der quasi um die Ecke sei. Im Gaza-Streifen sollte ein zweites Singapur entstehen. Illusionen wurden erzeugt, die jeder realen Grundlage entbehrten. Dies konnte jeder wissen, der die Verträge gelesen hatte. Kein Wort stand darin von "Singapur", von einem eigenen Staat oder wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Das Gegenteil war der Fall: Die Besetzung wurde neu definiert und vertraglich fest geschrieben.

Die sechsjährige Entwicklung nach "Oslo" hat die Lage der Palästinenser auf allen Ebenen verschlechtert. Die Landenteignungen, der Siedlungsausbau und die Häuserzerstörungen haben erheblich zugenommen. Die Rückkehr der Flüchtlinge, der Status von Jerusalem, die Freilassung der Gefangenen, die Kontrolle der Außengrenzen und die Wasserfrage - all dies ist bis heute völlig offen, und die neue Regierung unter Ehud Barak zeigt kaum Konzessionsbereitschaft. Die Eröffnung des Flughafens oder die "sichere Durchfahrt" vom Gaza-Streifen ins Westjordanland sind Kosmetik. In beiden Bereichen haben die Palästinenser keinerlei Befugnisse. Wer von Gaza abfliegt und wer ins Land gelassen wird, bestimmen die Israelis. Ebenso die Ausreise aus Gaza. Die Palästinenser bleiben Statisten. Barak hat zwar mit den Palästinensern ein weiteres Abkommen unterzeichnet, aber seine konkrete Politik unterscheidet sich effektiv nicht von der seines Vorgängers. Die Palästinenser sehen, wie ihnen das Land unter den Füßen weggezogen wird. Die Parzellierung schreitet fort. Palästina wird zur Fata Morgana. Hier liegen die Ursachen der Frustration.

Die Zukunft der Palästinenser unter der jetzigen israelischen Regierung wirkt düster. Baraks primäres Ziel ist ein Abkommen mit Syrien, das ihm auch den Rückzug aus dem Südlibanon ermöglicht. Die Aussichten dafür scheinen gut. Wenn das erreicht ist, wird er Arafat an die Wand spielen. In der Zwischenzeit verhandelt man über ein weiteres Zwischenabkommen, das alle wichtigen Punkte ausklammern soll, aber Arafat die Möglichkeit geben wird, seinen "Staat" auszurufen. Barak hat auch vermocht, dass sich die USA nicht mehr direkt in die bilateralen Verhandlungen einschalten. Von Verhandlungen kann unter diesen Bedingungen keine Rede mehr sein. Der längst überfällige Rückzug aus weiteren fünf Prozent des Landes soll allein nach israelischen Vorstellungen vonstatten gehen. Israel will weder fruchtbares noch bewohntes Land zurückgeben, sondern Wüste, und die Palästinenser haben dies widerspruchslos zu akzeptieren. - Ein solches Verhalten Israels destabilisiert Arafats Regime. Ohne den massiven politischen und finanziellen Druck auf Israel von seiten der USA und der EU wird es deshalb weder substanzielle Zugeständnisse noch wirklichen Frieden im Nahen Osten geben. Israel ist derjenige, der geben muss, weil es alles das unter seiner Besatzung hat, was den Palästinensern zur staatlichen Souveränität fehlt.

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