Drachen machen

Anime Mit „Miss Hokusai“ empfiehlt sich Keiichi Hara als Hoffnungsträger des japanischen Animationsfilms
Ausgabe 24/2016

Die beiden wohl bekanntesten, jedenfalls am häufigsten zitierten Bilder des japanischen Malers Hokusai (1760 – 1849) heißen Die große Welle vor Kanagawa und Der Traum der Fischersfrau. Ersteres zeigt eine erhaben aufschäumende Woge, die eine Handvoll schmaler, hilfloser Ruderboote regelrecht zu verschlingen scheint; das zweite eine nackte, genüsslich sich ausstreckende Frau, die sich von zwei Oktopussen beglücken lässt.

Das Anime Miss Hokusai stellt nur das erste der beiden Werke in eigenen Zeichnungen nach (vermutlich aus Gründen der Zensur) – was Tonlage und erzählerische Dynamik angeht, steht Keiichi Haras Film dem Tentakelporno-Fischersfrauentraum aber deutlich näher: Miss Hokusai weiß nicht nur mit psychosexuellen Wirrungen mehr anzufangen als mit dem Naturschönen, sondern hat auch eine Frau zur Hauptfigur. Wie der Titel andeutet, steht nicht der berühmte Maler im Mittelpunkt, sondern eine Verwandte: Katsushika Oi (im Film: O-Ei), eine Tochter Hokusais, die als Künstlerin reüssierte, auch mit erotischen Sujets. Bereits in den 80er Jahren war ein auf ihrer Biografie basierendes Manga entstanden, jetzt folgt der Film, der die lockere narrative Organisation der Vorlage beibehält.

Miss Hokusai entwirft keine streng durchkonstruierte Geschichte oder gar, erst einmal naheliegend, einen Entwicklungsroman. Lediglich ein den ganzen Film über heranwachsender Hund – großartig animiert im vollsten Wortsinn; man traut ihm schon nach seinen ersten Auftritten ohne Weiteres ein Leben außerhalb des Films zu – zeigt das lineare Fortschreiten der Zeit an. Ansonsten entfaltet sich der Film als ein frei konstelliertes Nebeneinander von kleineren und größeren Episoden aus dem Alltag einer jungen Künstlerin. Mal muss O-Ei ein Auftragswerk vollenden, das ihr wenig zuverlässiger und in der entscheidenden Nacht alkoholisierter Vater bereits abgeschrieben hat. Mal begibt sie sich in ein Bordell, um den „Geruch des Fleisches“ kennenzulernen, von dem sie erhofft, dass er sie künsterisch beflügle.

Miyazakis Erbe

Und in einigen der schönsten Szenen kümmert sie sich um ihre blinde jüngere Schwester O-Nao, fährt mit ihr Boot, spielt mit ihr im Schnee. Vor allem in dieser Winterszene offenbart der Film ein herausragendes Gespür für die Feinheiten sinnlicher Wahrnehmung. O-Nao legt ihre Scheu vor den unbekannten Wundern der Natur ab, als O-Ei ihr zeigt, wie sie den auf den Bäumen lastenden Schnee lösen und zu Boden prasseln lassen kann. Wenn bei all dem der Geniekult um den großen Maler ein paar Dellen erhält, dann ist das keineswegs despektierlich gemeint; es geht nur darum, zu zeigen, wie künstlerische Praxis immer schon in lebensweltliche Zusammenhänge eingebettet ist. Tatsächlich erscheint Hokusais zwischen ökonomischen Imperativen und künsterischer Ambition changierende Werkstatt wie ein Vorläufer der Anime-Industrie der Gegenwart.

Haras Film ist einerseits fest verankert an seinem Schauplatz – einer detailgetreu rekonstruierten japanischen Metropole der späten, bereits von einer durchaus modernen Massenkultur erfassten Shogunatszeit. Miss Hokusai spielt Mitte des 19. Jahrhunderts in Edo, dem heutigen Tokio. Gleich die ersten Bilder des Films zeigen ein Meer von Passanten, das Großstadtleben bleibt als alles Melodramatische nivellierendes Hintergrundrauschen stets präsent. Andererseits löst sich der zeichnerische Realismus immer wieder in frei flottierende, die Bilderwelten Hokusais geschickt variierende Traum- und Gedankenbilder auf: Der Kopf einer Kurtisane reißt sich von ihrem Körper los und sucht fauchend nach einem Weg in die Freiheit, ein Höllengemälde löst Horrorvisionen aus, riesige, goldene Buddhafüße stapfen bedrohlich durch sonnenbeschienene Straßen.

Das Schöne an Animationsfilmen ist, dass sich bei solchen (vermeintlichen) Abschweifungen die gesamte Bildlichkeit, fast schon die Medialität selbst ändern kann. Da verschwinden mit einem Mal alle Farben von der Leinwand, und es bleibt nichts zurück außer ein paar tanzenden Linien. Oder der Zeichenstil ändert sich radikal; wo vorher flüssig und lebensnah animierte Charaktere waren, tanzen plötzlich nur noch kindlich-krude Strichmännchen. Hara findet eine interessante Balance zwischen derartigen Entgrenzungen und einem zeichnerischen „Normalmodus“, der die Ästhetik des klassischen japanischen Kinos mit seiner Vorliebe für klare architektonische Linien und nach innen gerichtete Emotionen beschwört.

Ein weiterer Balanceakt betrifft die Animationstechnik selbst. Die mit simplen, effektiven Mitteln individuierten Figuren – O-Ei etwa hat äußerst prägnante Augenbrauen – sind in Miss Hokusai komplett von Hand gestaltet, die Hintergründe entstanden teilweise am Computer und wirken dementsprechend glatter, bisweilen steriler. Der Film ist freilich variabel genug gestaltet, um diese Differenz nicht zu sehr ins Auge springen zu lassen.

Und natürlich muss die japanische Animationsfilmindustrie mit der Zeit gehen. Das sagenhafte Ghibli-Studio war das letzte, das fast durchweg auf traditionelle Zeichentechnik setzte. Seitdem dessen Gründer Hayao Miyazaki 2013 sein Karriereende erklärt hat, befindet sich die weltweite Anime-Fangemeinschaft in einem Zustand der Trauer, sucht händeringend nach möglichen Nachfolgern. Keiichi Hara, der vorher hauptsächlich fürs Fernsehen gearbeitet, aber bereits 2007 mit dem schönen Kinder-Anime Summer Days with Coo auf sich aufmerksam gemacht hatte, darf ab sofort zu den größten Hoffnungsträgern zählen.

Info

Miss Hokusai Keiichi Hara Japan 2015, 93 Minuten

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