In der Bewertung dieser Szene herrschte schnell Einigkeit. Wie der ehemalige Nationalspieler Thomas Hitzlsperger dem niederländischen Ex-Fußballstar Clarence Seedorf bei einer FIFA-Podiumsdiskussion Anfang dieser Woche die Notwendigkeit von Coming-outs erklärte, das war tatsächlich „beeindruckend“ – wie beispielsweise Welt Online und Spiegel Online konstatierten.
Seedorf hatte seine Skepsis ob der Notwendigkeit von Coming-outs damit begründet, dass die sexuellen Präferenzen nichtschwuler Fußballer ja auch keine Rolle spielten. Hitzlsperger, der vor drei Jahren seine Homosexualität öffentlich gemacht hatte, konterte Seedorfs Ausgangsthese und verwies zudem auf die Vorbildfunktion von Fußballern und das allgemeingültige Medienspektakel. „Warum sollen heterosexuelle Leute mir andauernd mitteilen dürfen, dass sie heterosexuell sind, und ich darf nicht über meine Sexualität sprechen?“ hielt Hitzlsperger dagegen. „Eine Antwort mit der Wirkung eines Vollspannstoßes“, kommentierte 11Freunde das derzeit viral gehende Video. Naive Frage, bestechende Antwort, beseeltes Publikum: So oder so ähnlich lautet das Resümee allerseits.
Was in der Euphorie um Hitzlspergers treffsichere Kurzrede etwas unterging, war die tiefe Ignoranz, die in Seedorfs Ansatz steckt. Zunächst einmal formulierte Seedorf seine Frage („Ist es wirklich nötig, dass Ihr Leute...“) so, als würden Sportjournalisten mittlerweile gelangweilt gähnen, wenn der 713. Profi sein Coming-out annoncieren möchte. Ebenso problematisch, dass Seedorfs anmaßende Konfrontation verziehen wurde, weil er später ergänzte, „viele schwule Freunde“ zu haben, der Klassiker unter den berechenbaren Unschuldsbeweisversuchen. Thomas Hitzlsperger wiederum wurde dafür gelobt, besonnen und eloquent auf eine Frage reagiert zu haben, bei der man sich als Außenstehender dafür schämte, dass er sie überhaupt beantworten musste. Es gibt keine dumme Fragen? Na, vielleicht ja doch.
Wenn eine Person öffentlich ihr Coming-out rechtfertigen muss, dann gibt es eigentlich keinen Gewinner. Wenn man so will, offenbarte sich in diesem Wortwechsel genau jene Homophobie, die wohl viele Fußballer immer noch von einem Coming-Out während ihrer Karriere abhält.
Wer, wie Clarence Seedorf, nach über 20 Jahren als Profi zu der Idee kommt, dass Heterosexualität im Fußball keine Rolle spiele, der muss 20 Jahre lang schon sehr aktiv weggeschaut und weggehört haben. Thomas Hitzlsperger, seit vergangenem Sommer im Management des VfB Stuttgart, nannte zwei Beispiele für die heterosexuelle Omnipräsenz: Betrugstorys in den Medien und Pärchen-Fotos auf den Schreibtischen seiner Kollegen. Dass bei jedem Nationalmannschaftsspiel die Spielerfrauen im Fernsehen gezeigt und erläutert werden, dass Stürmer ihre schwangeren Frauen nach Toren gerne mit Schnullerjubel grüßen, dass der Zwischenbrüller „Du Schwuchtel“ unter Fans so etabliert ist wie „Du Wichser“, dass sich Trumps „locker room talk“ wohl gar nicht so sehr von dem unterscheidet, was man in einer durchschnittlichen Bezirks- oder Bundesligakabine hört, all das erwähnte Thomas Hitzlsperger gar nicht.
Clarence Seedorf gab sich bei dem Panel ehrlich interessiert, ehrlich verstehen wollend – und wirkte dabei wie ein großer Junge, der beim Auszug aus dem Elternhaus seine Mutter fragt, wer denn eigentlich all die Jahre das Mittagessen zubereitet und die Wäsche gemacht habe. „Ich, du verwöhnter Bengel!“, wäre eine legitime Antwort, oder übertragen auf die Fußballdebatte: „Euer Heteroleben ist überall!“
Hitzlsperger entschied sich für eine diplomatischere Erwiderung und als er fertig war, fühlte sich Seedorf offenbar in Erklärungsnot, oder wozu der Hinweis auf die schwulen Freunde (die ihm ja keiner absprechen will, aber darum geht es jetzt nicht)? „Es ist das erste Mal, dass ich eine Erklärung wie diese bekomme. Du redest über das große Ganze. Und ich wünsche mir wirklich, dass auch andere eine ähnliche Erklärung geben würden, denn das würde auch das Verständnis der Empfänger verändern“, bedankte sich Seedorf bei Hitzlsperger. Doch ein gesunder Dank war das nicht, eher das nächste Level der Anmaßung. Hätte der heute 40-jährige Seedorf in seiner Karriere wirklich nicht eher die Möglichkeit gehabt, die Diskriminierung von Homosexuellen wahrzunehmen?
Ist es die Aufgabe eines schwulen Fußballers einem heterosexuellen Fußballer Homophobie zu erklären? Nein, genauso wenig, wie der schwarze Seedorf, falls damit konfrontiert, dem weißen Hitzlsperger Rassismus erklären, beziehungsweise sich für den Kampf gegen Rassismus entschuldigen müsste. Und genauso wenig wie Frauen in der Pflicht sind, Männern das Patriarchat zu erläutern. Soziales Privileg kann man ergründen, ohne den Diskreditierten zu nerven.
Weil davon auszugehen ist, dass Seedorfs Ignoranz der anderen Perspektive eher Regel denn Ausnahme ist, solange sich Fußballer jahrelang durch dieses Geschäft navigieren, ohne an die offensichtliche Homophobie zu stoßen, kann man wohl von keinem schwulen Fußballer ein Coming-out erwarten.
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