Aus der Sicht wahrer Weltbürger

Grenzgänger In Migrantenfamilien herrscht nicht ständig Streit, und nicht alle Flüchtlinge sind immer nur traurig. Zehn starke neue Stimmen erzählen von der Gegenwart in Deutschland
Ausgabe 11/2016

Lethargiein der Kleinstadt

Nellja Veremej ist 1963 geboren und kam erst in den 90ern aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Nach Berlin liegt im Osten erscheint nun mit Nach dem Sturm schon ihr zweiter Roman in deutscher Sprache. Darin erfindet sie eine Kleinstadt: Gradow. Sie liegt in einem kleinen, unbestimmt bleibenden Land. Die Gestalt der Stadt wird wesentlich geprägt von Fluchtbewegungen – manchmal in die Stadt hinein, manchmal aus der Stadt heraus, oder gar raus aus dem ganzen Land. Die Hauptfigur Ivo lebt in der großen Festung von Gradow. Er ist in einen juristischen Dauerkonflikt mit den Erben der Adligen verwickelt, die vom kommunistischen Regime nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden und das Anwesen jetzt zurückhaben wollen. Seinen Vater, Philosophie-Professor und glühender Kommunist, sowie seinen Sohn, PR-Mann und überzeugter Neoliberaler, hält Ivo für Fanatiker gleicher Couleur. Er sucht eine alternative Haltung zur Welt, in der er lebt. Doch er hat – vor allem im Streit mit dem Sohn – nicht unbedingt die besseren Argumente. Veremej zeichnet mit ihrem Romanhelden einen auf sympathische Art ratlosen Lethargiker in der Provinz.

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Nach dem Sturm Nellja Veremej Jung und Jung 2016, 240 S., 21 €

Unablässiger Standortwechsel

Marie NDiaye nimmt es mit der transnationalen Existenz so wörtlich wie kaum ein anderer schreibender Mensch der Gegenwart. 1967 in Frankreich als Tochter eines Senegalesen und einer Französin geboren, hat sie schon fünf Mal das Land gewechselt. Zunächst zog sie nach Spanien, dann nach Italien, von dort in die Niederlande und wieder zurück nach Frankreich. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern in Berlin. „Man kann überall auf der Welt zu Hause sein“, sagte Ndiaye, als sie Ende 2015 mit dem renommierten Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet wurde. Für ihren Roman Drei starke Frauen erhielt sie in Frankreich den Prix Goncourt. Bislang schreibt sie auf Französisch. Zuletzt erschien 2015 auf Deutsch ihr Roman Ladivine, in dem die weibliche Heldin den afrikanischen Wurzeln ihrer Mutter nachspürt.

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Ladivine Marie NDiaye C. Kalscheuer (Übers.), Suhrkamp 2015, 444 S., 22,95 €

Magischer Sowjetblues

Anna Galkina ist in Russland geboren und aufgewachsen und legt jetzt ihr Erstlingswerk auf Deutsch vor: Die kurzen Kapitel ihres Romans Das kalte Licht der fernen Sterne können im Grunde auch als einzelne Prosagedichte oder Erzählungen gelesen werden. Aus der Perspektive eines Kindes wird das Leben in einem Moskauer Vorort zu Zeiten der Sowjetunion beschrieben. Wir lesen von magischen Räumen und unheimlichen Gegenständen in der elterlichen Wohnung, von der Birkensaftgewinnung im Frühling, aber auch von Hundewelpen, die ertränkt werden, und von den brutal autoritären Erziehungsmethoden der Grundschullehrer. All das gießt die junge Schriftstellerin in eine höchst poetische Sprache.

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Das kalte Licht der fernen Sterne Anna Galkina Frankfurter Verlagsanstalt 2016, 218 S., 19,90 €

Der Vater als Phantom

Pierre Jarawans Ich-Erzähler in seinem Debütroman Am Ende bleiben die Zedern hat ein sehr herzliches Verhältnis zu seinem Vater Brahim, der in den 80ern vor dem Bürgerkrieg im Libanon nach Deutschland geflohen ist. Gemeinsam lassen die beiden Nussschalen über Seen fahren, oder sie singen arabische Lieder in deutschen Fußgängerzonen. Das Verhältnis wird zum ersten Mal getrübt, als an einem Dia-Abend plötzlich ein Bild des Vaters aus dem Bürgerkrieg auftaucht, in Uniform und mit Waffe. Dabei kam er dem Sohn immer wie ein Frieden stiftender Mensch vor. Der Abend ist ruiniert, und ein Jahr später ist Brahim verschwunden. Der Sohn will herausfinden, wer sein Vater wirklich ist.

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Am Ende bleiben die Zedern Pierre Jarawan Berlin-Verlag 2016, 448 S., 22 €

Erkundungen des Sprachraums

Senthuran Varatharajahs Debüt Vor der Zunahme der Zeichen ist eine Art Doppelbildungsroman. In einem sozialen Netzwerk connecten sich Senthil, Doktorand der Philosophie, und Valmira, Kunstgeschichtsstudentin. Sie glauben zunächst, sich aus Marburg zu kennen, merken aber bald, dass sie sich dort nie über den Weg gelaufen sein können. Der Kontakt reißt dennoch nicht ab. Es entsteht eine zarte Freundschaft. In langen Textnachrichten erzählen sie sich von ihrem Leben und ihrer Kindheit. Beide kamen als Kind mit ihren Familien auf der Flucht vor Bürgerkriegen nach Deutschland. Valmira kam aus Albanien und Senthil aus Sri Lanka, wie auch der Autor selbst.

Aufregend an dem Buch sind vor allem die Reflexionen über Sprache – die der alten und die der neuen Heimat. Asylsuchende lernen die deutsche Sprache in Form von Einschränkungen kennenlernen: „residenzpflicht war eines der ersten deutschen wörter“, das die Eltern kennenlernten, heißt es zum Beispiel in Kleinbuchstaben, wie für Chats im Netz typisch. Aufwühlend ist, wie aus der Perspektive eines Schulkindes die Abschiebung einer Sandkastenfreundin samt Familie beschrieben wird. Ein Roman, der fesselt und anrührt.

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Vor der Zunahme der Zeichen Senthuran Varatharajah Fischer 2016, 256 S., 19,99 €

Neustart inder alten Fremde

Rasha Khayat zeichnet in ihrem Debütroman Weil wir längst woanders sind ein Porträt von Großstadtneurotikern, wie man sie noch nicht kannte: Der Vater von Layla und Basil ist Arzt aus Saudi-Arabien, die Mutter eine deutsche Krankenschwester. Ihre frühe Kindheit haben die Geschwister im Land des Vaters verbracht. Im Grundschulalter zogen sie nach Deutschland. Mit der Zeit haben sie den Bezug zu Saudi-Arabien verloren. Basil ist mit Anfang 30 noch Student und kellnert. Layla bricht ihre Ausbildung zur Buchhändlerin ab. Vom Erbe des früh gestorbenen Vaters macht sie eine Weltreise. Obwohl sie ihre Freiheit liebt, beschließt sie, in Jeddah zu heiraten. Eine irritierende Entscheidung – die ihr Bruder zu verstehen versucht, indem er ihr nachreist. Die Autorin kam 1978 in Dortmund zu Welt und wuchs in Jeddah auf, bevor sie mit elf Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland zurückkam.

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Weil wir längst woanders sind Rasha Khayat Dumont 2016, 192 S., 19,99 €

Verbaler Krawall gegen den Hass

Shahak Shapira wird die Silvesternacht von 2014 auf 2015 sicher nie vergessen. Was ihm damals passierte, wurde im Netz und den Medien fast so hitzig diskutiert wie zuletzt die Übergriffe von Köln. In der Berliner U-Bahn hatte der damals 26-Jährige antisemitische Gesänge gefilmt. Die Pöbler verprügelten ihn auf brutale Weise. Als 14-Jähriger war Shapira mit seiner Mutter aus Israel nach Deutschland gezogen. Nach dem Angriff wehrte er sich heftig dagegen, von anderen Rassisten als Symbolfigur für das „bedrohte Abendland“ benutzt zu werden. Nun schreibt er darüber, auch über sein Aufwachsen „als einziger Jude im tiefsten Sachsen-Anhalt“. Sein eloquenter Verbalkrawall gegen Rassismus macht Spaß.

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Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen! Wie ich der deutscheste Jude der Welt wurde Shahak Shapira Rowohlt 2016 (ab Mai), 256 S., 14,99 €

Kafka und Keun als Putzfrauen

Natalka Sniadankos Roman Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlennimmt die Perspektive von Menschen ein, die man in Europa heute „Wirtschaftsmigranten“ nennt. Chrystyna und Solomija sind beste Freundinnen und schlafen gelegentlich miteinander. Sie unterrichten an einer Musikschule in der Westukraine, die in den chaotischen 90ern geschlossen wird. Beide schlagen sich als Rädchen im korrupten Gesundheitssystem des Landes durch, als Pharmareferentinnen für Pseudomedikamente. Zumindest Chrystyna hat dabei ein schlechtes Gewissen. Sie möchte lieber in Griechenland Alte pflegen. Doch sie schafft es zunächst nur nach Berlin.

Dort muss sie als Putzfrau mit Perversen, verrückten Juristen und verwirrten Linken zurechtkommen. Der Ämtermarathon, um Visa zu beantragen, und die verworrene Reiseroute sind realistisch geschildert – und muten gerade deshalb oft kafkaesk an. Der freche Erzählton und die Darstellung von Sex erinnern an Irmgard Keun. Die Autorin lebt im ukrainischen Lviv, hat in Freiburg studiert und übersetzt aus dem Deutschen. Ihre eigenen Bücher schreibt sie (noch) auf Ukrainisch.

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Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen Natalka Sniadanko Lydia Nagel (Übers.), Haymon 2016, 344 S., 19,90 €

Groteskes von den Ämterfluren

Abbas Khider hat Wikipedia zufolge einmal mit dem WDR-Intendanten und früheren Tagesthemen-Sprecher Tom Buhrow eine Poetik-Vorlesung gehalten. Das ist zwar falsch, sagt aber schon einiges über Khiders Romane. In seiner Prosa neigt er zum Erklären und zu ausschweifenden Erläuterungen, so wie es eher von einem sendungsbewussten Journalisten erwartet wird als von einem Schriftsteller. Gleichwohl pflegt er einen sehr eigenen, oft grotesken Humor. Khider ist 1973 im Irak geboren, kam auf der Flucht vor Saddam Hussein 2000 nach Deutschland und legt mit Ohrfeige seinen vierten Roman auf Deutsch vor. Der Protagonist ist ein zurückgewiesener Asylsuchender im Clinch mit den Behörden, personifiziert in einer Frau Schulz.

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Ohrfeige Abbas Khider Hanser 2016, 224 S., 19,90 €

Revolutionund erste Liebe

Shida Bazyar orientiert sich in den Kapiteln von Nachts ist es leise in Teheran an einzelnen Jahren: an 1979, 1989, 1999 und 2009. Der Familienroman pendelt zwischen Teheran und der deutschen Provinz; zwischen der Revolution gegen den persischen Schah, dem Versuch, in Deutschland Fuß zu fassen und schließlich dem Aufstand gegen die iranische Theokratie. Shida Bazyar ist zwar erst 1988 in Deutschland geboren, aber was sie über die Demonstrationen nach dem Sturz des Schahs schreibt, liest sich so lebendig, als wäre sie live dabeigewesen. Einfach atemberaubend ist ihre Darstellung der Dynamik protestierender Massen. Ihr Held, der junge Kommunist Behsad, der später nach Deutschland fliehen muss, verliebt sich in dieser aufgeheizten Atmosphäre zum ersten Mal – eine beneidenswerte Erfahrung. Spannend dargestellt ist auch die Heterogenität der Protestierenden: In Bazyars Debüt wird erzählt, wie Islamisten und Kommunisten gemeinsam protestieren, obwohl sich beide Parteien eigentlich tief misstrauen. Manche jungen Kommunisten müssen zudem mit Islamisten zurechtkommen, mit denen sie sich kleine Wohnungen teilen, weil sie nun mal zum engeren Familienkreis gehören.

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Nachts ist es leise in Teheran Shida Bazyar Kiepenheuer & Witsch 2016, 288 S., 19,99 €

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Lukas Latz

Student in Berlin, Spaziergänger überallTwitter: @lukaslac

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