Schwierigkeiten mit der Wahrheit

Roman Im Oktober wird in Belarus mal wieder eine Präsidentenwahl abgehalten. Die Diktatur Lukaschenkas veranschaulicht ein neuer Roman
Diktator eines Landes, in dem es nicht viel zu sehen gibt: Aljaksandr Lukaschenka
Diktator eines Landes, in dem es nicht viel zu sehen gibt: Aljaksandr Lukaschenka

Foto: AFP

Lukaschenka wird im Westen häufig als „letzter Diktator Europas“ bezeichnet. Darin schwimmt die Idee mit, dass das gegenwärtige Belarus ein bald von selbst verschwindendes Relikt der Sowjet-Zeit sei. In dem Roman Paranoia von Viktor Martinowitsch wird dieser Sicht massiv widersprochen. Der im litauischen Exil lebende belarussische Autor zeichnet ein Land, dem er eine „Kettenpanzerstabilität“ nachsagen lässt. In ihm führen Landwirtschaftskollektive nach altem sowjetischen Muster - de facto eine jüngere Rechtsform für Leibeigenschaft -, ein chaotisch-totalitärer Geheimdienst zusammen mit westdeutschen Autos und französischem Poststrukturalismus eine friedliche Koexistenz. Der Autor protestiert dagegen, dass sein Roman in das antiquierte Genre des kritischen Ostblock-Romans aufgenommen und seine Aktualität damit liquidiert wird. Das russische Original ist 2010 erschienen. Gerade jetzt zeigt sich, wie recht Martinowitsch mit seiner Prognose hat. Die Präsidentschaftswahlen am 11. Oktober scheinen, wie es aussieht, kein Anlass für Proteste zu werden. In der Ukraine-Krise ist Lukaschenka ein wichtiger Vermittler. Noch dazu hört man sowohl von ukrainischer Soldaten als auch von Separatisten, dass Lukaschenkas Belarus für sie ein politisches Vorbild ist. Das Land ist heute also alles andere als ein Anachronismus.

Anatoli verkauft regimekritische Erzählungen mit dem Label based on a true story an westliche Zeitungen. Vom Geheimdienst bleibt das ungeahndet. Er beginnt eine Affäre mit Lisa. Sie ist Eigentümerin unzähliger Luxusimmobilien und vermutlich die Geliebte des Diktators Murawjow, der formal nur Minister für Staatssicherheit ist. Schließlich verschwindet Lisa. Anatoli gerät unter Verdacht.

Martinowitsch schafft eine authentisch wirkende Szenerie. In einem Illustrierten-Porträt über einen Geheimdienst-Oberst findet sich die Passage: „Mit offenen Mund lauschen die sieben und zehn Jahre alten Knaben der Erzählung ihres Vaters, wie er kürzlich bei einem Feuergefecht zwei Spione niedergestreckt hat, so dass sich die Frage erübrigt, was aus den beiden einmal werden wird.“ Die wie versehentlich hineingeratene Doppeldeutigkeit ist so gut, sie könnte fast zitiert sein. Die Langeweile des Stadtbildes wird höchstens von einem Graffito unterbrochen, das der Staat immer schnell entfernt. Ein kontemplativer Spaziergänger kann hier bestenfalls in Tagträumen versinken; wenn er ein sowieso nicht vorkommendes Treiben auf offener Straße beobachtete, macht er sich schon verdächtig. Bei ihrem ersten gemeinsamen Spaziergang stürzen sich Lisa und Anatoli auf die wenigen Pflastersteine in der Stadt. Auf ihnen kann keine Militärparade abgehalten werden, zumindest hier erlaubt die Stadt Romantik. Der Protagonist nimmt wahr, wie Belarussen im Minsk der Nuller Jahre wohl wahrgenommen haben. Durch die ausgearbeiteten Details lässt man sich davon überzeugen.

Der Roman veranschaulicht, wie sich die Zerstörung zivilen Lebens durch einen totalitären Geheimdienst auf intimes Liebesleben auswirkt. Das Paar trifft sich in einer für die Affäre angemieteten Wohnung nur zweimal pro Woche. Zwischen den Protagonisten herrscht ein stetiges unausgesprochen bleibendes Misstrauen. Nur an einem Abend denkt Anatoli laut darüber nach, ob Lisa nicht einen Auftrag hat, ihn für das Ministerium für Staatssicherheit zu überwachen. Sie reden kaum über sich selbst. Sie haben Sex oder verlieren sich in kitschigen Tagträumen. Der Kitsch schafft keine Öde. Wenn der Geheimdienst bei einer Wohnungsdurchsuchung ihren gemeinsam angefertigten Skizzen einen „künstlerischen Wert“ abspricht, begeistert man sich erst recht für sie. Kitsch wird mit einem starken Argument verteidigt: In einer Gesellschaft, in der jeder jedem misstrauen muss, in der man nicht viel von sich preisgeben darf, wird er Katalysator für menschliche Beziehungen. Radikale Vereinzelung wendet er ab. Es scheint, als würde ihre Beziehung am Ende auch daran zerbrechen, dass sie zu viel übereinander wissen.

Der Protagonist fesselt durch seine Widersprüchlichkeit; er ist ein recht qualifizierter Kritiker des totalitären Staates und gleichzeitig politisch naiv. Er kann vor Lisa dozieren, wie sehr man sich vor dem Geheimdienst in Acht zu nehmen habe und eine Woche später die Bedrohung gefährlich verharmlosen. Paranoid wirkt er nicht dadurch, dass er die Ausweite staatlicher Überwachungsmaßnahmen massiv überschätzt, sondern dadurch, dass er eine wahrscheinliche Überwachungsmaßnahme wie die, das die für ihre Treffen angemietete Wohnung abgehört wird, gerade nicht in Erwägung zieht. Es lässt sich nachfühlen, wie Anatoli von Lisas Schönheit und Luxus angezogen ist, gleichzeitig aber Distanz zum Regime wahren will und, da sie sich immer nur in der ranzigen Plattenbauwohnung aufhalten, von ihrem Reichtum doch nie profitiert. Anatoli wird die lakonisch kommentierte Biographie eines Intellektuellen der Postsowjet-Ära gegeben. Nach seinen Angaben wurde er nach dem Erscheinen seines ersten Buches, dem Essayband Das B-Land als Russisch-Dozent an der Universität entlassen und zwar nicht wegen einer systemkritischen Meinung, sondern „aus prophylaktischen Gründen“. Er „gab eine Untergrundzeitung heraus und bewirkte damit den Zerfall der Sowjetunion“, heißt es über ihn. Diese alberne Kausalität drückt das Verhältnis eines Präventions- und Sicherheitsstaates zu Intellektuellen pointiert aus.

Während der erste und der dritte Teil des Romans aus der Sicht Anatolis erzählt sind, besteht der zweite Teil aus Protokollen des Geheimdienstes über die Treffen der Protagonisten. Die Protokolle sind recht gute Beamtenwitze. Von den stets wechselnden Protokollanten pflegt jeder einen individuell verquasten Schreibstil - als ob nur das Hässliche verschiedenartig sein könnte. Alle gebrauchen eine andere bürokratische Umschreibung für Sex. Beim Lesen sieht man, wie die Geheimdienstler bei der Niederschrift dieser Umschreibungen erröten. Als das Paar in einem von nur zwei gemeinsamen Spaziergängen den Sonnenuntergang beobachtet, vermerkt der zuständige Protokollant in Klammern: „beide Personen waren dabei dem Untergang frontal zugewandt“.

Im Narrativ sind gut konstruierte Mehrdeutigkeiten angelegt. Im ersten Teil des Romans bleibt lange unklar, ob Anatolis zweite Begegnung mit Lisa real ist, ob sie ein Tagtraum des Flaneurs ist oder ob es eine Erzählung ist, die er geschrieben und nach der verschlüsselten Warnung eines Freundes wieder gelöscht hat. Der weitere Verlauf der Handlung macht die erste Variante zur plausibelsten. Es ist aber nicht die einzige Unsicherheit. Plot-Elemente, die man über weite Strecken der Handlung als Fakt anerkannt hat, müssen irgendwann hinterfragt werden. So glaubt man, über die Beziehung zwischen Murawjow und Lisa mal mehr und mal weniger zu wissen. Manche Unsicherheiten löst der Autor auf, andere nicht. Das Erwägen verschiedener Lesarten des Plots bereitetet hohes Vergnügen. Als Leser weiß man meistens mehr als der Protagonist, man weiß aber längst nicht alles. Der dritte Teil bemüht sich nicht, die Verschwörung um das Verschwinden Lisas aufzuklären. Nach und nach werden verschiedene Theorien dazu entwickelt, von denen final keine zur bestmöglichen Erklärung gekrönt werden kann. Es kann etwa interpretiert werden, dass Murawjow die Kontrolle über seinen Geheimdienst verloren hat. Ebenso könnte Anatoli Lisa umgebracht haben, nachdem er vom Geheimdienst in Hypnose versetzt worden ist.

Zur Darstellung der Schrecken einer Diktatur, so dachte ich vor der Lektüre des Romans, muss Literatur nicht besonders innovativ sein. In einem realistischen Roman Grossmanns, in einem Zeitzeugenbericht Herta Müllers oder in einer Analyse Hannah Arendts treten Spannung und ein Moment des Unerhörten auch in konventionellen Textformen auf. Die gute Recherche ist wichtiger als die reflektierte Erzähltechnik. Entgegen dieser Intuition stützt sich Martnowitschs Roman auf einen unverlässlichen Erzähler, Vielstimmigkeit und parodistische Komik. Mit diesen Techniken stellt er hervorragend dar, wie der Totalitarismus Wahrheit zerstört. In nun demokratischen Ländern des ehemaligen Ostblocks steht die einfache Ermittlung dessen, was der Staatsterror wirklich verbrochen hat, immer wieder vor Mauern der Unbeweisbarkeit. Die Ambiguität des Plots reflektiert, wie eine Diktatur die Spuren ihrer Verbrechen verwischt.

Paranoia Viktor Martinowitsch, Thomas Weiler (Übers.), Voland & Quist, 399 S. EUR 24,90

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Geschrieben von

Lukas Latz

Student in Berlin, Spaziergänger überallTwitter: @lukaslac

Lukas Latz

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