Sein Land verlassen

Somalia Eine große Reportage über Dadaab und ein Roman aus der Diaspora
Ausgabe 31/2016
Seit 1991 flüchteten hunderttausende Somalier ins kenianische Dadaab
Seit 1991 flüchteten hunderttausende Somalier ins kenianische Dadaab

Foto: Tony Karumba/AFP/Getty Images

Was wäre, wenn die Bundesregierung die Stadt Dresden auflösen wollte und die Einwohner in Tschechien anzusiedeln versuchte? Und wenn sie das damit begründete, dass Dresden ein Nährboden des Terrorismus sei und die Sicherheit des Landes gefährde? Seit einem Jahr formuliert die Regierung Kenias einen ähnlichen Plan für Dadaab. Dadaab liegt im Osten des Landes, etwa 100 Kilometer entfernt von der Grenze zu Somalia. Dadaab ist de facto eine Stadt, aber ihre Einwohner sind Staatenlose.

1991 ist sie als mitten in der Wüste liegendes Flüchtlingslager eröffnet worden, für Somalier, die vor dem Bürgerkrieg flohen. Der Andrang reißt bis heute nicht ab, noch immer verlassen somalische Bauern ihr Land wegen vom Klimawandel verursachten Dürren und wegen des Terrors der islamistischen Miliz Al-Shabaab. Eine Minderheit der Einwohner kommt auch aus dem Sudan. Insgesamt leben heute dort zwischen 300.000 und 600.000 Menschen, genauer weiß man es nicht. Kenia würde das Lager gern auflösen und die Menschen zurückschicken.

Der britische Journalist Ben Rawlence folgt in Die Stadt der Verlorenen neun Personen aus Dadaab, er beschreibt ihre Lebensgeschichten und ihren Alltag. „Ich habe ein Faible für hoffnungslose Fälle“, sagt Ben Rawlence bei der Präsentation seines Buchs. Zunächst hat er Dadaab für Human Rights Watch besucht und den NGO-Job später gekündigt, um über Dadaab schreiben zu können. Zwischen 2010 und 2015 hat er das Lager regelmäßig besucht. Rawlence ist kein unbeschriebenes Blatt: Er berichtet oft über Flüchtlinge innerhalb Afrikas, regelmäßig für den Guardian und die New York Times.

Beschämend

Zu den porträtierten Personen gehört Muna. Noch als Teenagerin heiratet sie und wird Mutter. Ihr Mann stirbt sehr jung, nach somalischer Tradition nimmt der Bruder ihres Mannes sie auf. Sie wird misshandelt und vergewaltigt und hat den Mut, mit ihrem Kind zu fliehen. Bei der UNO bekommt sie eine Stelle in einer Werkstatt, wo sie Monday kennen lernt. Monday ist Sudanese und Christ. Sie verlieben sich, Muna wird erneut schwanger. Die konservativen Muslime aus Munas Umfeld halten das für eine große Schande. Männer bedrohen ihr Leben und versuchen später auch das Neugeborene zu töten. Die Familie begibt sich in die UN-Schutzzone. Den Schutz durch die überwiegend korrupte kenianische Polizei erkauft sich Muna durch Prostitution. Muna und Monday wird in Aussicht gestellt, nach Australien auswandern zu können. Die Perspektive ist ungewiss, das zähe Warten machen sie sich durch Drogen erträglich.

Guled, 1993 geboren, wird im Jahr 2010 aus der Schule von der Terrormiliz Al-Shabaab gekidnappt. Die Miliz setzt ihn als Scharia-Polizisten ein. Er soll Rauchern die brennenden Zigaretten auf der Haut ausdrücken, die Einhaltung der Bekleidungsregeln kontrollieren und Ähnliches. Er flieht. Der Weg nach Dadaab ist hochgefährlich, Guled hat großes Glück. Die Menschen in Dadaab haben kein Recht zu arbeiten, es gibt aber einen großen, ausdifferenzierten Schwarzmarkt. Neuankömmlinge, die keine Verbindungen zu den wichtigen Clans haben, können jedoch höchstens Lkw be- und entladen. Guled wird Vater, ist aber kaum in der Lage, für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Eine Situation, die ihn extrem beschämt. Er spricht mit Rawlence darüber, nach Europa zu fliehen. Doch schon das Grenzregime des Sudan ist für den mittellosen Guled kaum überwindbar.

Ben Rawlence beschreibt die Lebensbedingungen der Bewohner Dadaabs plastisch und lässt sie ausführlich zu Wort kommen. Trotzdem bleiben ihre Ängste, ihre Erfahrungen von unerträglicher Hitze, Hunger, Durst, für einen Leser wie mich – aufgewachsen in einer westdeutschen Kleinstadt – schwer begreiflich. Der Autor ist zudem ein kluger Beobachter des politischen Geschehens. Scharf kritisiert Rawlence die äthiopischen Invasionen in Somalia, die von den USA unterstützt worden sind. Die nach 9/11 zunehmend restriktive Migrationspolitik des Westens nennt Rawlence „verbrecherisch“. Aber sein Buch scheint etwas zu bewirken: Nach Erscheinen der englischen Version haben sich beim Autor einige Organisationen und Privatleute gemeldet, die für die Bewohner Dadaabs etwas tun wollen. Bleibt zu hoffen, dass solche Reaktionen auch aus Deutschland kommen werden.

Fesselnd

Wer von Somaliern nicht immer nur als den Opfern von humanitären Katastrophen hören will, sollte Nuruddin Farahs Roman Jenes andere Leben lesen. Nuruddin Farah, 1945 in Somalia geboren, flieht 1974 aus dem Land und schreibt seitdem auf Englisch. Bekannt geworden ist er mit einer Trilogie über afrikanische Diktaturen nach der Dekolonialisierung.

Sein neuer Roman spielt in der somalischen Diaspora, unter finanziell unabhängigen Intellektuellen, die alle drei bis vier Sprachen fließend sprechen. Aar und seine zwölf Jahre jüngere Halbschwester Bella fliehen mit ihrer Familie Anfang der 90er Jahre aus dem Bürgerkriegsland. Aar studiert in Kanada und beginnt, für die UNO zu arbeiten. Bella wächst in Rom auf, wird Kunstfotografin und ist polyamorös. Mit Anfang 40 stirbt Aar bei einem Anschlag in Mogadischu. Bella will die Erziehung von Aars beiden Kindern übernehmen, dafür bricht sie mit ihrem bisherigen Leben. Sie zieht nach Nairobi, wo der alleinerziehende Vater Aar mit seinen Kindern seinen Lebensmittelpunkt hatte.

Die Erzählstruktur des Romans ist leider arg konventionell. Die Erzählperspektive folgt durchgehend der Protagonistin Bella. Stark ist der Roman dort, wo er die Auswirkungen von Terrorismus auf die Seele der Hinterbliebenen beleuchtet. Farah hat zudem einen genauen Blick für die somalische Identität. Wie hier ein moderner Lebensstil mit heimatlichen Traditionen versöhnt wird, ist fesselnd.

Info

Stadt der Verlorenen. Leben im größten Flüchtlingslager der Welt Ben Rawlence Nagel & Kimche 2016, 416 S., 24,90 €

Jenes andere Leben Nuruddin Farah Suhrkamp 2016, 382 S., 24,95 €

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Geschrieben von

Lukas Latz

Student in Berlin, Spaziergänger überallTwitter: @lukaslac

Lukas Latz

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