549 Seiten zum Verfackeln

Armutsberich Der "Armutsbericht" & seine Kritiker sprechen vor allem von der "relativen Armut" - doch was hat diese mit der absoluten Armut zu tun? Bedeutet denn Ungleichheit - Armut?

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Als ich gestern durch den Park meine Tochter auf dem Schlitten durch den Schnee richtung Kinderladen zog, fielen uns zwei Menschen auf, die in einer windschützenden Lücke zwischen Mauer und Büschen Feuer machten. Und darauf wie man erkennen konnten eine Art Grill aufgebaut hatten. Auf die Frage meiner Tochter „Was machen die denn da?“ sagte ich - „Sie wärmen sich was zum essen auf.“ In diesem Augenblick habe ich an den neulich veröffentlichten „Armutsbericht“ der Bundesregierung gedacht. Ich fragte mich, ob solche Menschen und solche Situationen darin vorkommen – also Fälle von wirklicher, existenzieller Armut.

Denn der „Armutsbericht“ - der eigentlich „Armuts- und Reichtumsbericht“ heißt – beschäftigt sich vor allem mit der s.g. „relativen Armut“, kaum mit der absoluten, wahren Armut. Während zurecht viele den „Armutsbericht“ und die Regierung darin kritisieren, den Bericht beschönigt zu haben oder gar Folgerungen wie „Die im Beobachtungszeitraum sinkenden Reallöhne in den unteren Dezilsgruppen sind also auch Ausdruck struktureller Verbesserungen.“ dort unterzubringen, und das Armutsrisiko kaum als solches zu bezeichnen – findet sich darin tatsächlich keine Tabelle oder Zahlen zur absoluten Armut. Dagegen findet man in dem 549seitigen Werk zahlreiche Tabellen, Diagramme und Definitionen, die diese „relative Armut“, genauer genommen die „Armutsrisikoquote“ (ARQ), generell oder je nach Bevölkerungsgruppe abbilden. Und genau auf diese Zahlen werden dann schnell zum „Aufhänger“ des Armutsberichts“, nicht nur seitens der Regierung, die sie beschönigt oder nicht ernst nimmt, sondern auch seitens der Kritiker wie der Opposition oder der Wohlfahrtsverbände, und natürlich den Medien und der breiteren Öffentlichkeit wie uns. Aus der „Armuts-Risiko-Quote“ wird schnell „relative Armut“, und daraus einfach „Armut“. Dabei ist die ARQ kein direkter Indikator für tatsächliche Armut, sondern eher für die Ungleichheit der Einkommen in einer Gesellschaft. Das ist nicht dasselbe. Nach der Definition fällt derjenige in diese Kategorie, dessen Einkommen weniger als 60% des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens beträgt. Selbstverständlich fällt jeder, der in absoluter, existenzieller Armut lebt ebenfalls in diese Gruppe – und wahrscheinlich, gäbe es dazu Zahlen, ist die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben in Deutschland in den letzten Jahren gestiegen. Doch nicht jeder, der hier als „relativ Arm“ bezeichnet wird – ist auch tatsächlich arm.

Dazu zwei Beispiele, ein reales, und ein abstraktes.

Im Jahr 2009, als das Einkommen der reichsten Deutschen in Folge der Finanzkrise kräftiger sank als das mittlere Einkommen (und auch die niedrigsten Einkommen) – vor allem weil es sich um Einkommen aus Vermögenswerten wie Aktien handelte – sank in Folge auch die Quote der „relativen Armut“! Dass das Jahr 2009 aber keine Erhöhung der realen Einkommen wie des Wohlstands für die Niedrig- und Mitteleinkommen war – davon kann ausgegangen werden. Spielen wir das Szenario noch drastischer weiter durch: Angenommen, durch eine Krise verlieren die Reichsten 70% ihres Einkommens, die mittleren und armen „nur“ 50%. Statistisch sinkt dann die „relative Armut“ - außer, daß dann tatsächlich Millionen Menschen in echten Armut leben.

Anderes Beispiel: Zwei Menschen leben auf einer einsamen Insel. Beide haben als „Einkommen“ 100 Bananen pro Woche. Doch dann entdeckt einer der beiden eine Kiste mit Lebensmittelkonserven. Damit steigt sein absolutes Einkommen (bzw. dann Vermögen). Nach der Definition der „relativen Armut“ müsste der „ohne Kiste“ ärmer werden – obwohl er weiterhin seine 100 Bananen hat, die ihm ausreichen. Würden hingegen beide jeden Tag mehr Bananen finden (und es gäbe keine Kiste) – würden beide reicher werden – nur nicht im Sinne der „relativen Armut“.

Daher finde ich solche „Armutsberichte“ und generell die Idee der „relativen Armut“ als eine größere Verlogenheit und Irreführung als die beschönigten Stellen des „Armutsberichts“. Es ist wichtig, und richtig, Ungleichheiten in einer Gesellschaft zu erforschen und zu benennen – seien die Kennzahlen der GINI-Koeffizient oder die ARQ. Doch Ungleichheit ist nicht Armut. Armut ist, wenn jemand zu wenig zu Essen hat, obdachlos ist, kein Geld für neue Kleidung hat, oder seinem Kind keine neuen Kreidestifte für die Schule kaufen kann. Armut ist, wenn Schulgebäude bröckeln und Schwimmbäder schließen. Armut gibt es in Deutschland, und zwar nicht nur in Berlin, Chemnitz oder Wuppertal. Dagegen ist „relative Armut“ nicht immer Armut – doch je öfter wir davon hören, ab welchem Einkommen man schon als „arm“ gilt – beginnt man vielleicht selber daran zu glauben, ohne dass der absolute Wohlstand unbedingt gesunken sein muss. Das führt zur Frust und zur Neid. Dabei wäre auch ein selbstkritischer, demütiger Blick über die Grenzen Deutschlands sinnvoll. Ob nach Griechenland, Moldawien, oder Bangladesch. Oder in die USA, wo in Folge der Finanz- und Hypothekenkrise zwar bankrotte Banken mit Billionen „gerettet“ wurden – aber hundertausende ebenfalls bankrotte Hausbesitzer aus ihren Häusern vertrieben wurden und nun obdachlos sind.

Als ich vor Jahren in einem der ärmsten Länder Europas lebte – Bosnien und Herzegovina – war mein Einkommen aus „westlicher Sicht“ „arm“ - es waren ca. 200 DM pro Monat + Unterkunft. Doch im Vergleich zu den Bosniern war mein Einkommen überdurchschnittlich, während ich zur gleichen Zahl auch dort für einen UN-Job vielleicht das zehnfache bekommen hätte können. Fühlte ich mich „arm“? Nein. Einer jener bosnischen Freunde, der damals im Vergleich zu mir „relativ arm“ war, lebt nun seit ein paar Jahren in Nicaragua. Wenn er zwischendurch seine Heimat besucht, sagt er zu den sich beklagenden Menschen immer wieder: „Hier, in Bosnien, das ist hier keine Dritte Welt, euch geht es eigentlich ziemlich gut! Vielleicht hat nicht jeder einen Job, doch keiner hungert, keiner ist obdachlos. Dort, in Nicaragua, das ist Armut, das ist die Dritte Welt!“

Und genauso denke ich im Falle der zwei Menschen am Feuer im Berliner Park: Das ist Armut, und nicht die Mehrheit deren, die im „Armutsbericht“ als „arm“ definiert werden. Die „Armutsrisikoquote“ misst die Armut genauso wenig wie das Bruttoinlandsprodukt den Wohlstand einer Gesellschaft wiedergibt. Solche Berichte sind wertlos, bestenfalls zum Feuer anzünden brauchbar – wobei mir klar ist, dass die Idee, Bücher zu verbrennen, in Deutschland nicht gut ankommt, nicht nur wegen der CO2 und des Recyclings.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukasz Szopa

Balkanpole. Textverarbeiter. Denker-in-progress. Ökokonservativer Anarchist.

Lukasz Szopa

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