1924: Der „Heilige Stuhl“ der kommunistischen Bewegung steht endgültig in Moskau
Zeitgeschichte Der V. Weltkongress der Kommunistischen Internationale reagiert auf das Ende der revolutionären Nachkriegsperiode und die sich abzeichnende Stabilisierung des Kapitalismus. Die Stalinisierung hat begonnen und zeitigt fatale Folgen
1920, beim II. Komintern-Weltkongress, war die Euphorie, die Revolution nach Westen tragen zu können, noch groß. Der deutschen KPD machte Grigori Sinowjew (r.) klare Ansagen
Fotos: dpa, Imago Images (rechts)
Sie wirkt erschöpft und labil und schleicht herum wie ihr eigener Schatten, als das Jahr 1923 ansteht – die Revolution in Deutschland ist nicht dem Untergang geweiht, aber einem toten Punkt gefährlich nahe. Vier Jahr zuvor ist es mit dem Aufstand im Berliner Zeitungsviertel misslungen, dem Umsturz vom 9. November 1918 die Ehre zu geben, statt ihn aufzugeben. Rosa Luxemburg sieht Kampf und Niederlage als Ehrenrettung. In ihrem letzten Artikel für die Rote Fahne – einen Tag bevor sie von Offizieren gelyncht wird – prophezeit sie am 14. Januar 1919, die Revolution werde sich morgen schon „rasselnd in die Höh’ richten und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein“.
Seither ist viel passiert. Prol
viel passiert. Proletarier an der Ruhr haben nach dem Kapp-Putsch vom März 1920 ihre Waffen nicht abgeben wollen. Freikorps-Männer zerschießen die Rote Ruhrarmee mit Artilleriegranaten, wie sie einst auf französische Stellungen an der Somme niedergingen. Hunderte werden an die Wand gestellt. Es trifft die Blüte der Arbeiterjugend. Revolutionärer Aufruhr bricht sich mit den Märzkämpfen im mitteldeutschen Industrierevier 1921 erneut Bahn. Nach dem Willen der KPD soll die Erhebung in einen Generalstreik münden, jedoch halten preußische Polizeieinheiten alles nieder, bevor es so weit ist.Die Geschlagenen jener Jahre kommen selten zu Atem, um sich einzugestehen, dass Opfermut vergeudet sein kann. Und Niederlagen zersetzen. Nicht nur unten, auch oben. Den Kommunisten fehlt die Zeit zu innerer Sammlung und mentaler Mäßigung. Weil sie selten Mitleid mit sich selbst haben, entfällt häufig das Mitleid mit denen, die sie von der Klassenherrschaft erlösen wollen. Aus Mitleid kann man Almosen verteilen, aber keine neue Welt errichten. In Klassenschlachten überlebt nur, wer bereit ist, notfalls zu töten. Der revolutionäre Narziss ist sich selbst der Nächste, weil es ihn als Ersten trifft. Wohl richtet sich die Revolution nach 1919 immer wieder „rasselnd in die Höh’“, aber rasselnd klingt auch ihr Atem.Der Nachkriegssturm bläht nicht mehr die Segel, räumt die Kommunistische Internationale (Komintern) in Moskau ein. Ihr III. Weltkongress verbreitet 1921 die Losung „Heran an die Massen“, weil die jungen kommunistischen Parteien in Europa – keine ist vor 1919 entstanden – sich zwar als Avantgarde verstehen, aber statt der Arbeiterklasse eher Minderheiten führen. Die Suche nach Bündnispartnern erscheint unumgänglich und landet zwangsläufig bei den Sozialdemokraten. Der IV. Weltkongress segnet das 1922 mit der Parole „Einheitsfront“ ab und bejaht ausdrücklich – wenn auch mit skeptischem Unterton – das „Arbeiterregierungen“ beider Lager denkbar seien, nur sollten Kommunisten keineswegs „zum Gefangenen der sozialdemokratischen Führer“ werden.Der 8. Parteitag der KPD, abgehalten Anfang 1923 in Leipzig, versucht das mit „Leitsätzen zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiterregierung“ zu beherzigen. Stellenweise ist ihnen ein realpolitischer Zungenschlag anzumerken, und es scheint auf, was Rosa Luxemburg auf dem Gründungsparteitag 1918/19 angedeutet hat. Warum sollte die Partei keine radikaldemokratische Alternative zur restaurativen Versuchung der Sozialdemokratie sein, von der die Novemberrevolution erstickt wurde?Und dann ereilt die Weimarer Republik ein kaum für möglich gehaltenes Sakrileg. Mitte Oktober 1923 tritt die KPD den Landesregierungen der SPD in Sachsen und Thüringen bei. Doch kaum haben sie sich konstituiert, werden beide Kabinette durch Reichswehrtruppen gestürzt, die am 30. Oktober in Dresden und am 2. November in Weimar einrücken. Aufschlussreich ist das überlieferte Protokoll einer Sitzung der Reichsregierung in Berlin vom 27. Oktober 1923 unter Kanzler Gustav Stresemann von der Deutschen Volkspartei (DVP). Was er zu sagen hat, klingt kompromisslos. Kommunisten mit Regierungsverantwortung in Sachsen – es handelt sich um Fritz Heckert als Wirtschafts- und Paul Böttcher als Finanzminister – seien zu entlassen oder es greife das Prinzip der Reichsexekution. Dazu verliest Wehrminister Otto Geßler den Entwurf eines Schreibens an den sächsischen Regierungschef Erich Zeigner (SPD), dem mitgeteilt wird: Solange er Kommunisten dulde, werde in Dresden ein von Berlin eingesetzter Staatskommissar die Geschäfte übernehmen. Justizminister Gustav Radbruch und Wiederaufbauminister Robert Schmidt (beide SPD) äußern Bedenken. Sie tun es umsonst.Das Sitzungsprotokoll schließt mit den Worten: „… dass die Verhältnisse unter der gegenwärtigen Regierung in Sachsen nicht tragbar sind“. Sie könne „nicht mehr als solche anerkannt werden“. Zwei Tage später erklärt Reichspräsident Friedrich Ebert – Zeigners Parteifreund – die Koalition aus SPD und KPD für abgesetzt. Ein Gewaltakt, dem das Militär Nachdruck verleiht. Schneidig kann die Weimarer Demokratie sein, wenn es gegen links geht.Trotzkis EinsichtenDie Komintern in Moskau reagiert verhalten auf die Reichsexekution. Arbeiterregierungen in Deutschland, bei denen Kommunisten in der Minderheit sind, gelten nicht als Idealfall der Einheitsfrontpolitik. Andererseits, weshalb die Gunst der Stunde verschenken? Sollte man nicht angesichts der in Deutschland grassierenden Inflation und Verelendung, des Unvermögens der Reichsregierung, daran etwas zu ändern, der Bourgeoisie einen revolutionären Schock versetzen? Wenn Ebert im Bund mit der Reichswehr linke Regierungen abserviert, ergibt das kein Fanal für eine Rückkehr der Revolution? Über den „Tag X“ sind sich Komintern und KPD schnell einig. Am 7. November soll losgeschlagen werden, wenn „proletarische Hundertschaften“ als Revolutionsarmee aufmarschieren und davon künden: „Ich war, ich bin, ich werde sein.“Vielleicht wäre es so gekommen, hätte nicht kurz zuvor das Chemnitzer Treffen proletarischer Organisationen („Betriebsrätekonferenz“) einen Offenbarungseid geleistet. Fällt die Regierung Zeigner, wollen wir mit den Zähnen knirschen, aber die Barrikade meiden. Die KPD-Führung sieht sich gezwungen, den Aufstand abzusagen, was alle Bezirksorganisationen bis auf den Verband Wasserkante erreicht. In Hamburg stehen die Barrikaden und sind umkämpft. Als aus Sachsen versprochene Waffen ausbleiben, werden Polizeiwachen gestürmt. Die Schächte der Kanalisation sind die operative Basis. Für einen Vortrupp der Entschlossenen werden Kampf und Niederlage ein weiteres Mal zur Ehrenrettung, auch wenn ihr Anführer Ernst Thälmann als Bierkutscher untertauchen muss.Das in Deutschland mehr glimmende als lodernde Herbstfeuer von 1923 scheint die Auffassung Leo Trotzkis zu bestätigen, dass der Kapitalismus einer „Epoche der Wiederherstellung und des Wachstums“ entgegengeht, worauf sich die Komintern einstellen sollte. Deren Generalsekretär Grigori Sinowjew, Bolschewik der ersten Stunde an der Seite Lenins, verwahrt sich gegen die aus seiner Sicht defätistischen Erkenntnisse. Was die KPD am wenigsten brauche, seien Rückzug und Defensive. Sie müsse vielmehr „bolschewisiert“ und als proletarische Massenpartei zur stärksten Komintern-Sektion außerhalb der Sowjetunion werden. Es gelte, auf der Parlamentstribüne zu stehen, in den Gewerkschaften Fuß zu fassen und eine eigene proletarische Kultur zu haben. Sinowjew fühlt sich durch die Reichstagswahl am 4. Mai 1924 ermutigt, als die KPD 3,7 Millionen Stimmen und 62 Mandate gewinnt, bis dahin das mit Abstand beste Ergebnis, obwohl die Partei nach dem Hamburger Aufstand bis zum 1. März 1924 verboten blieb. Was sich bei dieser Wahl auszahlt, ist nicht zuletzt die Vereinigung mit dem starken linken Flügel der USPD Ende 1920, wodurch die Zahl der KPD-Mitglieder auf über 360.000 steigt.Schließlich ist es dem V. Weltkongress der Komintern im Juni/Juli 1924 vorbehalten, die „Bolschewisierung“ als strategische Agenda auszurufen. Das Vorbild der Bolschewiki wird als alternativlos verkündet. Auch die Parteiführer können nur als proletarische Figuren glaubhaft „bolschewistisch“ sein. Loyalität und Treue zur Komintern entscheiden über Aufstieg oder Fall. Hat Ruth Fischer als Leitfigur einer linksradikalen KPD, die nach dem alles in allem desaströsen Jahr 1923 das Ruder übernimmt, den V. Weltkongress noch unbeschadet überstanden, soll sich das bald ändern. Beim für den 11. August 1925 anberaumten Komintern-Rapport in Moskau wird Ernst Thälmann als neuer Vorsitzender präsentiert. Er verkörpert die „Bolschewisierung“ wie kein anderer und verspricht, taktische Allianzen mit der SPD nur noch einzugehen, wenn ideologische Konzessionen unterbleiben. Die Devise „Einheitsfront“ hat ausgedient, die Parole des VI. Weltkongresses der Komintern 1928 – Hauptfeind ist der Sozialfaschismus der Sozialdemokraten – gerät in Sicht. Unverkennbar dient die „Bolschewisierung“ als Scharnier, um einer Stalin’schen Internationale Vorschub zu leisten. Rosa Luxemburgs Partei der radikaldemokratischen Alternative wird es nie geben.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.