1939: Bronskis Ende

Zeitgeschichte Am ersten Tag des Zweiten Weltkrieges greift die SS-Heimwehr die polnische Post in Danzig an und stößt auf erbitterten Widerstand. Eine Erinnerung in Fakten und Prosa
Ausgabe 35/2019

In das Blut Polens getaucht wird Oskars alte Trommel sterben. Schon gestern, am Nachmittag des 31. August 1939, hat sich das angedeutet. Ist das Blech zerbeult und zerrissen, kann nur einer dafür sorgen, dass die Blessuren nicht unheilbar sind. Vorausgesetzt, Hausmeister Kobyella von der polnischen Post hat Zeit und einen guten Tag. Weil beides zutreffen kann, zieht Oskar seinen Onkel und mutmaßlichen Vater Jan Bronski durch die Schützenkette der SS-Heimwehr am Danziger Hevelius-Platz. Schon steht man „in der halbdunklen, angenehm kühlen Schalterhalle“, und schon kann Bronski mit dem Karabiner auf Posten ziehen, was der nicht will, aber muss, weil das von einem Polen, erst recht einem Postsekretär im Dienste Polens, in diesem Augenblick erwartet wird. Die nächsten 24 Stunden überleben, heißt das Fegefeuer überstehen. Mit den Schüssen des deutschen Kriegsschiffs Schleswig-Holstein aus dem Danziger Freihafen auf die Halbinsel Westerplatte und dem Angriff auf die Backsteinburg der Post beginnt am 1. September gegen 4.30 Uhr der Zweite Weltkrieg.

Im Roman Die Blechtrommel von Günter Grass kommt Oskar Matzerath gegen Ende jenes Tages zu einer neuen Trommel. Auf der alten, sterbenden ist der Postler Wischnewski verblutet. Was ist mit Bronski? In einer Briefkammer versteckt, kann er einen todsicheren Grand Hand gegen Kobyella nicht mehr ausspielen. Stattdessen steht er mit den geschlagenen, in halb verbrannten Uniformen steckenden Kollegen auf dem Posthof vor den Gewehrläufen der SS-Heimwehr. Bald schon wird Bronski ganz woanders stehen, auf dem Exerzierplatz Saspe, auf dem Schießplatz Saspe, aber so weit ist es noch nicht.

Noch am 1. September 1939 verkündet der Großdeutsche Rundfunk die Rückkehr Danzigs ins Deutsche Reich. Es fällt in Scherben, was der Stadt für fast 20 Jahre unter Aufsicht des Völkerbundes den Status eines „Freistaates“ verschafft hat. Mit dem Versailler Vertrag konnte 1919 nach 123 Jahren Fremdherrschaft der polnische Staat auferstehen. Fortan grenzt Danzig an einen „Polnischen Korridor“ zwischen Pommern im Westen und der unteren Weichsel im Osten. Der Geländestreifen sichert Polen den freien Zugang zur Ostsee, während Ostpreußen vom übrigen Deutschland getrennt ist, was dort als erniedrigende Willkür empfunden wird. Unter der zu 90 Prozent deutschen Bevölkerung Danzigs bohrt und rumort die „Heim ins Reich“-Parole, erst recht, seit ab 1933 die NSDAP souffliert. Als Schande gelten 18 „polnische Einrichtungen“, die Westpreußens einstige Hauptstadt hinnehmen muss, darunter die Eisenbahnverwaltung, ein Polytechnikum, das Munitionsdepot auf der Westerplatte – auch die Post am Hevelius-Platz, zwar kein exterritoriales Terrain, doch polnisches Hoheitsgebiet. Wer die Post angreift, legt sich mit Polen an.

Im August 1939 wünscht sich Hitler nichts sehnlicher als das. „Die Korridorfrage wird gelöst, so oder so“, keucht es aus Berlin. Längst ist dafür Vorsorge getroffen. Seit Juni täuschen deutsche Frachter, die offiziell zwischen Stettin und Königsberg auf Tour sind, Havarien vor, um die Danziger Schichau-Werft an der Toten Weichsel anzulaufen und nachts Haubitzen, Panzerwagen und Drahtverhaue zu entladen. Als „Geheime Reichssache“ werden Kampfverbände mit Polizei und SS-Bataillonen formiert. Aus der Wehrmacht wechselt Generalmajor Friedrich Eberhardt zur Tarnung in den Dienst des Freistaates. Am 3. Juli 1939 kursiert in der Danziger Polizei ein erster Angriffsplan für die polnische Post. In Warschau will man sich nicht bieten lassen, was da heraufzieht, wird aber von der britischen Regierung gebremst und durch Waffenlieferungen beschwichtigt, die im Hafen von Gdynia an Land gehen, 36 Kilometer von Danzig entfernt. Das sind die Fakten. Wie es den Verteidigern der Post dann erging, muss der Autor dieses Textes imaginieren.

Er ist ganz allein und niemand sonst in der Wohnung, vor Wochen schon hat der Briefträger Wladyslaw Nowak die Söhne Marek und Arkadiusz nach Łódź zu den Eltern gebracht. Zum Ersticken schwüle Luft schlägt ihm entgegen, als er am Morgen des 31. August das Haus verlässt. Nowak trabt die Weidengasse entlang, über die Grüne Brücke, lässt auf der anderen Seite der Mottlau den Fischmarkt links liegen und nähert sich dem Hevelius-Platz. Damit das gut geht, kann es nur zu Fuß und in Zivil gehen. Nicht in Postuniform mit dem silbernen Adler an der Mütze, mit dem Nowak auf dem Rad gerade jetzt gern durch die Stadt fliegen würde. Nur wäre er dann seines Weges nicht mehr sicher. Beschimpfen würde den „Saupolacken“ jeder Pimpf. „Üb immer Treu und Redlichkeit, bis an dein kühles Grab“, zieht das Geläut eines Glockenspiels über die Altstadt wie ein Möwenschwarm, der Nowak eine kleine Windstrecke lang begleitet. In der Post mussten sie die große Briefkammer räumen. „Inspektor Konrad“ aus Warschau braucht den Raum. Und wie er ihn braucht. Drinnen stapeln sich Postsäcke, aus denen keine Briefe zum Vorschein kommen, sondern Maschinengewehre, in Einzelteile zerlegt, Verbandszeug, Munition.

Beeilen Sie sich, flüstert Postdirektor Michón mit geduckter Stimme, als Nowak durchs Portal will. Heute Nacht bleiben Sie hier, heute Nacht bleiben wir alle hier. Für Polen ist die Mobilmachung befohlen. Michón trägt schon Stahlhelm und hat den für Nowak zur Hand.

Als die Postverteidiger in Stellung gehen, tun sie es in dem Glauben, dass die im Süden stehende Pomerellen-Armee unter General Bortnowski auf Danzig vorrückt. Wir halten die Post, bis Entsatz kommt, schärft Michón seinen Leuten ein. Nur hat die Armija Pomorze längst andere Befehle, sie zieht nach Westen, auf dass die Wehrmacht gegen einen Riegel stößt, wenn sie einmarschiert, sich wundscheuert und wieder geht. In der Post erfahren sie davon nichts. Sechs Stunden höchstens, dann ist Bortnowski hier, glaubt man, hofft man, betet man.

Der Kampf dauert bereits viele Stunden, als die Postverteidiger am späten Nachmittag des 1. September ihre Waffen noch einmal durchladen, Verwundete in den Keller schleppen – und warten. Zwei Angriffe haben sie seit dem Morgen abgewehrt. Die Danziger Heimwehr musste abdrehen, zwei Tote und acht Schwerverletzte über den Hevelius-Platz mit sich schleppend. Gegen 17.00 Uhr greift eine Pioniereinheit aus dem Kommando Eberhardt ein, lässt einen Tankwagen bis zur Post rollen und Benzin in die Keller pumpen, das sofort durch eine Granate entzündet wird.

Nowak rast in den dritten Stock und sieht den toten Inspektor Konrad auf den Stufen liegen, er hastet weiter, an der Wand Deckung suchend, längst sind die Wasserleitungen zerschossen, die Füße streicheln Brief- und Paketmatsch, Papierschlamm, Lebensschlamm, Lebensschlick. Nur jetzt nicht darin untergehen, nicht mit dem Tod fremdgehen, noch nicht. Nowak hört sich schreien, ein dünnes klagendes Wimmern ausspucken, die Post halten, bis Entsatz kommt, bis Bortnowski kommt. So verrückt und wild war ein Danziger Sommer nie. Eine Feuersäule schießt durchs Treppenhaus, zerreißt die Luft und die Lunge dazu. So glühend heiß war ein Danziger Sommer noch nie.

Raus, sofort alles raus, schreien die Heimwehrleute und durchkämmen die verkohlten Posträume, stochern mit den Füßen in Kragenspiegeln, Schulterstücken, Silberknöpfen, Koppelschnallen. Wem die einmal gehörten, lässt sich so genau nicht mehr feststellen. Durch die Benzinexplosion verbrennen sieben Postverteidiger, sechs erliegen in den nächsten Tagen ihren Verletzungen. Die Überlebenden, zur Kapitulation Gezwungenen – 38 an der Zahl –, kommen wegen „Freischärlerei“ vor ein deutsches Feldkriegsgericht, werden sämtlich zum Tode verurteilt und am Morgen des 5. Oktober 1939 erschossen.

Die Salve auf Saspe trifft auch Günter Grass’ Bronski, der in der brennenden Post einen Grand Hand nicht mehr ausspielen konnte und seinen mutmaßlichen Sohn, den eifrigen Trommler Oskar, zurücklassen muss.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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