Und wie konnten Sie hier leben?“, fragt der sowjetische Hauptmann Wadim Gejman einen Deutschen Ende April 1945. Der Angesprochene ist ein Mann in mittleren Jahren, mit gepflegten Händen und von gepflegter Sprache, ein Landschaftsarchitekt. Der Beruf wirkt wie eine ironische Allegorie. Gejman und sein Trupp ziehen gerade mit einem vorsintflutlichen Kastenwagen durch eine vom Krieg geflutete Landschaft. Sie folgen als Propaganda-Einheit der 48. Armee, die nördlich an Berlin vorbei nach Westen vorstößt. Noch tobt die Schlacht um die Zitadelle des NS-Staates, doch ergibt sich daraus mehr der Hintergrund als ein Handlungsgerüst für Konrad Wolfs Spielfilm Ich war neunzehn. Gedreht 1967 für die DEFA, eine autobiografische, subjektive Chronik. Der Regisseur war einst selbst – wie sein Filmheld Gregor Hecker – zurückgekehrt als 19-jähriger Deutscher in sowjetischer Uniform, als Emigrant und Sohn des Schriftstellers Friedrich Wolf, der Deutschland 1933 verließ und ins Exil nach Moskau ging. Da war Konrad Wolf acht Jahre alt. Ich war neunzehn beschreibt eine Ankunft, die keine Heimkehr ist, trotz der märkischen Alleen und deutschen Straßennamen überall. Was ist Heimat?
Manchmal hält der Kastenwagen an, um per Lautsprecher einen Schlager über die Front zu schicken und einen Aufruf hinterher. „Achtung, Achtung, deutsche Soldaten! Der Krieg ist endgültig verloren. Eure Lage ist hoffnungslos. Wartet nicht, handelt. Wir fordern euch auf, nicht zu schießen!“ Dann legt Leutnant Hecker den Tonarm auf die nächste Schallplatte. Nun fliegt das Ännchen von Tharau über die Havel und begleitet ein Floß mit aufmontiertem Galgen, das stromabwärts treibt. Der Erhängte trägt Wehrmachtsuniform, der Wind spielt mit seinem Haar. „, mein Reichtum, mein Gut“. Es hängt ein Schild um den toten Hals. „Deserteur! Ich bin ein Russenknecht“.
„Ich bin Deutscher, hört mich an, habt Vertrauen“, ruft Hecker immer wieder zur anderen Seite hinüber. Meist antworten ihm Schüsse. Selten, dass einer aufsteht und losläuft. „Wenn Sie uns alle erschießen, sind Sie im Recht“, sagt der Architekt zu Hauptmann Gejman und lehnt sich in seinem Sessel weit zurück. Aber Gejman will niemanden erschießen, er will nur wissen, wie er das später – wieder als Deutschlehrer in Kiew – seinen Schülern erklären soll: Auschwitz und Goethe.
Über Deutschland liegt im Frühjahr 1945 ein Schleier aus Trostlosigkeit und Selbstmitleid. Die Gegend bei Berlin bevölkern graue Menschen und weiße Fahnen. Man begegnet einem besiegten Volk, nicht dem Volk einer besiegten Armee oder eines besiegten Staates – es ist Hitlers Volk. Kaum ist Leutnant Hecker von seinem General zum Kommandanten von Bernau ernannt, wird er in eine Wohnung gerufen. Ein Fenster steht offen. Der Gashahn auch. Hecker findet eine tote Frau und fragt sich, warum bringt sich jemand um, wenn er befreit wird. Die sollten doch aufatmen, dass der Krieg vorbei ist und die Hitler-Zeit gleich mit. Viele sind alles andere als froh. Manche nicht einmal erleichtert, noch am Leben zu sein.
In Wolfs Filmepisoden werden die Deutschen nicht ergründet, sondern beobachtet und wieder aus den Augen verloren – das Flüchtlingsmädchen aus Schlesien, das nach seiner Familie sucht, der Kommandant der Festung Spandau, der blind geschossene Soldat, von seinen Kameraden alleingelassen im ausgebrannten Lkw. Oder Willi Lommer, ein Feldwebel aus Berlin, der sich gefangen gibt und zurück schießt, als die SS auf ihn schießt. Über alldem liegt die Frage: Kann man ein Volk vor den Richterstuhl der Vernunft bringen? Kann man es zwingen, sich ins Gesicht zu sehen? War es mit dem Gehorsam bis zuletzt vielleicht gar kein moralisches, sondern mehr ein anthropologisches Problem?
Selten redet im Film jemand von einem „anderen Deutschland“, das jetzt gebraucht werde. Die von Hecker in Bernau zunächst freudig gesichtete rote Fahne hat in der Mitte einen hellen Kreis. Als sei etwas herausgewaschen, kein Fleck, sondern das Tausendjährige Reich, schnell und hastig und nicht sehr gründlich. Aus dem Fenster gehängt hat das meineidige Tuch ein Bürgermeister, der die Sowjetmacht mit einem Glas Wein zu begrüßen wünscht in dieser „für uns alle schicksalsschweren Zeit“.
Konrad Wolf und Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase zeichnen ein Geschichtsbild, wie es für die DDR nicht eben geläufig ist. Sie meiden das Narrativ von heroischen Befreiern und glücklich Befreiten. Das Flüchtlingsmädchen aus Breslau will sich beim Kommandanten Hecker über Nacht einquartieren. Lieber den einen als alle, soll das heißen und wird so ausgesprochen. Schließlich wird der jungen Frau das Ehebett des abgesetzten Bürgermeisters zugewiesen, für eine Nacht und ohne Hecker.
Am 22. April erreicht die Rote Armee das KZ Sachsenhausen bei Berlin. Das Lager ist verlassen. Befreit werden nur Kranke und Sterbende. In der Umgebung spüren sowjetische Soldaten einen SS-Mann auf, der offenbar zur Wachmannschaft gehörte. Man will kurzen Prozess machen. Nehmt nicht Rache, übt keine Selbstjustiz, beschwört Hauptmann Gejman die Soldaten, die oft nicht wissen, was mit ihrer Familie ist, oder wissen, dass sie keine mehr haben. Gejman wird abgedrängt. Er gibt auf, zieht ab, dann fällt der Schuss. Die Kamera ist nicht mehr dabei, als hielte sie es für besser, sich abzuwenden.
Das Motiv der Rache kehrt noch einmal zurück, als sowjetische Offiziere in einem prunkvollen Saal – die Anspielung auf Sanssouci ist unübersehbar – den 1. Mai 1945 feiern. Es hat den Anschein, als hätte sich die Tafelrunde mit ihren Pelmeni-Schüsseln und Wodka-Gläsern an deutscher Kulturlandschaft vergriffen, der solche Vereinnahmung erspart blieb, solange sie in der Nachbarschaft von Konzentrationslagern lag. Plötzlich werden Stühle gerückt und drei befreite Häftlinge aus dem Zuchthaus Brandenburg hereingeführt. Deutsche Antifaschisten, sagt der sowjetische General. Einer davon – ein Häufchen Mensch auf zu großem Stuhl, der nie für seinesgleichen gedacht war – will einen Toast sprechen. Doch es geht nicht. Er sinkt in sich zusammen, noch mehr als zuvor. Entkräftung oder Scham? Warum konnten wir das Land nicht selbst von der Pest befreien? Alles schweigt, bis ein anderer im Zuchthaus-Drillich aufspringt. „Man muss sie alle aufhängen. Jeden, der noch eine Uniform trägt. Mit Stumpf und Stiel ausrotten, sonst fängt das in 20 Jahren wieder an ...“
„Wir konnten Sie hier leben?“, – fragt Hauptmann Gejman den Architekten ein zweites Mal. Die Antwort: „Durch ein gewisses Maß an Oberflächlichkeit und eine gewisse frei schwebende Intelligenz. Ich selbst habe mich nicht politisch betätigt, aber die Kultur steht vielleicht immer in einer beklagenswerten Weise am Rande solcher naturalen Prozesse, jedenfalls in Deutschland.“ Ähnlich erklärt sich Wilhelm Furtwängler, Dirigent der Berliner Philharmoniker, als ihn die Amerikaner nach Kriegsende befragen, weshalb er mit seinem Orchester zu Hitlers Geburtstagen aufspielte. Im Spielfilm Taking Sides – Der Fall Furtwängler (2001) von István Szabó geißelt der Vernehmungsoffizier Steve Arnold den Rückzug in einen idealistischen Lebensbegriff als Flucht aus der Verantwortung. Kann, wer sich auf höhere Werte beruft, kein Komplize der Nazis sein? Was können die Kultur und ich dafür, wenn wir missbraucht wurden, stammelt Furtwängler. Alles, sagt Arnold. Ist der geistige Herrenmensch um so vieles besser und anders als der treffsichere beim Genickschuss in Sachsenhausen?
Goethe und Auschwitz. Es gibt keinen Trost. Hauptmann Gejman will es dennoch versuchen und zitiert Heinrich Heine auf deutsch: „Ich hatte einst ein schönes Vaterland. Der Eichenbaum wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft. Es war ein Traum. Das küsste mich auf deutsch und sprach auf deutsch.“ Leutnant Hecker setzt fort: „‚Man glaubt es kaum, wie gut es klang – das Wort: Ich liebe dich! Es war ein Traum ...‘ Hör auf, lass mich in Ruhe, du Idiot!“
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