„Wenn der Tiger zum letzten Mal springt, wird er nicht aufzuhalten sein“, schreibt Vo Nguyen Giap Ende der 60er Jahre in sein Tagebuch. Der nordvietnamesische General und geniale Stratege soll sich nicht getäuscht haben. Der Tiger springt wirklich. Er springt und wartet und springt. Und ist auf der Höhe seiner Zeit. Im Februar 1975 hat in Vietnam mit dem Tet-Fest das „Jahr des Tigers“ begonnen. Bald wird entschlüsselt sein, was das heißt.
Die nordvietnamesische Armee und die südvietnamesische Befreiungsfront FNL – im Westen seinerzeit „Vietcong“ genannt – treten zur Offensive an. Die Bastionen des Gegners fallen wie Dominosteine in langer, doch endlicher Reihe. Der letzte am 30. April 1975, als ein T-55-Panzer das Tor des Präsidentenpalastes in der Hauptstadt Saigon durchstößt. Aber noch ist es nicht so weit. Zunächst geht im Zentralen Hochland der Stützpunkt Ban Me Thuot verloren. Am 20. März geben die südvietnamesischen Streitkräfte die Basen Pleiku und KonTum her und so die ohnehin poröse Grenze mit Laos preis. Am 24. März trifft es die einstige Kaiserstadt Hue. Wie schon einmal während der Tet-Offensive Anfang 1968 weht das Blau-Rot des Vietcongs über der Zitadelle. Diesmal nicht für Stunden, sondern für immer. Am nächsten Tag wird über Da Nang, bis 1973 das größte Material- und Menschenlager der US-Armee in Südvietnam, weiß geflaggt. Vor der Kapitulation fällt kein Schuss.
Der Tiger springt, und mit der Wucht eines Taifuns kommt das Ende für die Regierung des Präsidenten und Obristen Nguyen Van Thieu. Der Untergang des südvietnamesischen Staates ist so wenig aufzuhalten wie der seiner Armee.
Erst jetzt werden die Vereinigten Staaten wirklich geschlagen, auch wenn sie ihre 600.000 Soldaten, die einst in diesem Land standen, um es vor dem Kommunismus zu retten, vor zwei Jahren abgezogen haben. In diesen chaotischen Apriltagen heben nur noch Hubschrauber mit den letzten Militärberatern vom Dach der US-Botschaft in Saigon ab, um im Wolkendunst zu verschwinden. Alles löst sich auf, als sei dieser Krieg nur ein aberwitziger Traum gewesen, gewebt aus Erinnerungsfetzen, die sich so leicht abstreifen lassen wie ein Kokon. Warum sollte es unmöglich sein, alles hinter sich zu lassen? Die umkämpften Landezonen in den Bergen von Da Lat für die amerikanische Luftkavallerie mit ihren Helikoptern, die Munition brachten und gleich wieder abhoben, die Schreie der ausgeflogenen Verwundeten an Bord. Die Feuerwände aus Napalm, die nach Sieg gerochen haben sollen. Oder die Glitzershows mit Miss America und einem Dutzend Stripperinnen, wenn die Truppenbetreuung aus sich herausholte, was in ihr steckte. Es sollte dem Inferno nicht an Kulissen fehlen, die Sergeant Clean glauben halfen, doch irgendwie daheim zu sein. Wer denkt noch an den body count, das akribische Zählen toter Vietcong für die Abendnews bei CBS, und die body bags für die eigenen Toten?
Am 10. April 1973, keine drei Monate nach dem Pariser Vietnam-Abkommen, war in Saigon die letzte US-Kampfeinheit verabschiedet worden. Es gab Musik, Fahnen, ein Ehrenspalier vietnamesischer Gesellschaftsdamen im traditionellen Áo dài, ein übersandtes Grußwort von Präsident Nixon. Erledigt hatte sich damit nichts. Der Abzug beugte vor, es sollte nicht noch mehr Unruhe an der Heimatfront geben und keine Niederlage auf dem Schlachtfeld womöglich. Das „Jahr des Tigers“ kündigte der buddhistische Kalender zwar erst für 1975 an. Doch man ging besser vorher.
Der stille Amerikaner
Der englische Schriftsteller Graham Greene hatte eine Vorahnung, dass es so enden könnte. Sein Roman Der stille Amerikaner, erschienen 1955, führt in das Saigon der frühen 50er Jahre. Die französische Kolonialadministration überlebt in dem Gefühl, ihrer selbst überdrüssig und bald schon überflüssig zu sein. Greene ruft den für eine Londoner Zeitung schreibenden Korrespondenten Thomas Fowler zum zynischen Zeugen dieses Siechtums auf. Fowler hat den Geruch von Benzin in der Nase, weil sich buddhistische Mönche aus Verzweiflung über den Kolonialkrieg vor seinem Büro verbrennen. Und er genießt den Opiumrausch, wenn ihm seine vietnamesische Geliebte Phuong die Pfeife vorbereitet, während draußen auf der Rue Catinat der Tag verdämmert. Unerwartet muss sich Fowler eines Nebenbuhlers erwehren. Phuong glaubt, bei einem als Entwicklungshelfer getarnten amerikanischen Geheimagenten besser aufgehoben zu sein. Es ist Alden Pyle, der junge, sehr potente, sehr patente „Stille Amerikaner“, der dem alternden Liebhaber die annamitische Gespielin ausspannt, als wollte er das alte Europa von seinem kranken Kolonialismus erlösen, der nur noch im Rausch der Liebe oder des Opiums zu ertragen ist.
Aus der Dreiecksgeschichte wird eine Tragödie und dadurch vom Krieg der Amerikaner in Vietnam erzählt, bevor der überhaupt geführt wird. Sogar dessen letztes Stadium ist vorweggenommen. Als Pyle in einem der Gassenlabyrinthe Saigons bei einem „hinterhältigen Anschlag“ (Greene) umkommt, wird der Tote zum Propheten des großen Sterbens. Es beginnt 1964, als mit der US-Armee immer mehr Pyles kommen und bleiben und sich an Vietnam vergreifen. Sie tun es im Namen der Freiheit, die entlaubte Wälder und abgerissene Beine braucht, um in diesem Teil der Welt Fuß zu fassen.
Greenes Warnungen fruchten nichts. Pyle ist tot, aber seine Landsleute wollen es trotzdem riskieren und in den Fluss steigen, der schon die Franzosen untergehen ließ. Sie werden dabei vor sich selbst erschrecken, weil sich herausstellt, dass in ihnen zwei Seelen wohnen, eine, die liebt, was zu Hause auf sie wartet, und eine, die tötet, weil Gott auch ein Tier sein kann.
Das Grauen
„Um den Horror in Vietnam zu überleben, muss man sein Freund sein“, glaubt Oberst Kurtz in Francis Coppolas filmischem Vietnam-Epos Apocalypse Now (gedreht 1979). Der hochdekorierte Kriegsheld Walter E. Kurtz ist zum Deserteur geworden. Er hat sein Kommando bei den „Green Berets“ verlassen und sich in den Dschungel Kambodschas abgesetzt. Eine Flucht aus und vor dem Krieg, der Kurtz als Vollendung aller menschlichen Torheit und allen Ekels mit Entsetzen erfüllt. Das US-Oberkommando in Nha Trang betrachtet den abgetauchten Eliteoffizier als gefährlichen Irren, der liquidiert gehört, bevor dessen Verrücktheit die Truppe verrückt macht. Den Auftrag dazu übernimmt Hauptmann Willard, für den die Fahrt den Fluss Nung hinauf zur apokalyptischen Wallfahrt des Irrsinns wird, bevor er Kurtz in den Katakomben einer zerfallenden Tempelstadt gegenübersteht.
Willard trifft auf einen verzweifelten und zerrissenen Menschen, den nur noch der Tod erlösen kann. Und der wie ein Soldat sterben will. Im letzten Gespräch mit Willard raunt Kurtz, es sei unmöglich, mit Worten zu beschreiben, was das Grauen dieses Krieges bedeutet. „Ich habe das Grauen gesehen, das Grauen, das auch Sie gesehen haben. Aber Sie haben kein Recht, mich einen Mörder zu nennen, Sie haben das Recht, mich zu töten – aber Sie haben kein Recht, über mich ein Urteil zu fällen.“ – Willard schlägt mit einer Eisenkugel zu wie ein Gladiator aus den düsteren Abgründen menschlicher Geschichte. Als es vollbracht ist, huldigt ihm das Camp der Kurtz-Jünger als neuem Führer. Willard könnte bleiben. Warum eigentlich nicht? Er ist inzwischen nicht weniger desillusioniert, als der Colonel es war. Doch das hieße nur warten, bis Nha Trang den nächsten Killer in Marsch setzt. Einen wie Alden Pyle, der weiß, dass die Militärräson keine Gnade kennt.
Es war ein amerikanischer Krieg, der zwischen 1964 und 1975 in Vietnam geführt wurde und vieles von dem vorwegnahm, was Jahrzehnte danach folgen sollte – besonders in Afghanistan und im Irak. Die Rückkehrer konnten davon nichts wissen. Sie hatten überlebt und wollten glauben, dass ihre toten Kameraden bei Gott und den Engeln gut aufgehoben seien. Und dass sie nicht in der Erde Vietnams verfaulten.
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