1983 – 1988 – 2014

MH 17 Es gab schon andere Flugzeugkatastrophen, bei denen internationale Konflikte die zivile Luftfahrt in Mitleidenschaft zogen. Es war im Recht, wer das als Warnung empfand
Ausgabe 30/2014
Aufbahrung der Opfer des Airbus-Abschusses 1988 in Teheran
Aufbahrung der Opfer des Airbus-Abschusses 1988 in Teheran

Foto: Norbert Schiller / AFP-Getty Images

Es hat den Anschein, als habe man eine Wiederholungstaste gedrückt. Flashartig schieben sich Bilder durchs Gedächtnis und gerinnen zu Erinnerungen, die bereit liegen wie aufgeschlagene Bücher. Die Umstände des Absturzes des malaysischen Passagierflugzeuges am 17. Juli über der Ostukraine beschwören so etwas wie ein déjà vue herauf.

Es gilt dem 1. September 1983, als über der Halbinsel Kamschatka ein südkoreanisches Verkehrsflugzeug von sowjetischen Abfangjägern abgeschossen wurde. Die Maschine war von ihrer Route abgewichen und für ein Spionageflugzeug gehalten worden. Die Spannungen zwischen der UdSSR und den USA kulminierten zu jener Zeit. Die NATO war im Begriff, nukleare Offensivraketen mittlerer Reichweite in Westeuropa zu stationieren. Und der im Januar 1983 vereidigte, neue US-Präsident Ronald Reagan wollte den Sowjets nichts schenken, redete damals schon vom „Reich des Bösen“, das man zur Räson bringen müsse.

Blättert man weiter in diesem Almanach der Entsetzens, stößt man auf ein weiteres Ereignis – das jähe und furchtbare Ende des Iran-Air-Fluges 655 am 3. Juli 1988 über dem Persischen Golf, als zwei Raketen – abgefeuert vom US-Kriegsschiff USS Vincennes – einen iranischen Airbus in die Katastrophe stürzten. Die USA und die Islamische Republik standen sich damals wie Feindstaaten gegenüber, die den heißen Krieg einkalkulierten.

In beiden Fällen – beim Crash über Kamschatka wie am Golf – gab es keine Überlebenden. Hier wie dort zeigte sich, dass internationale Konflikte auf die zivile Luftfahrt übergreifen und sich politische Spannungen auf diese Weise entladen können. Um so mehr bringt das grauenhafte Schicksal des Linienfluges MH 17 Amsterdam – Kuala Lumpur zu Bewusstsein: Beim Kampf um die Ukraine, nicht nur deren Osten, handelt es sich um einen expandierenden Konflikt, von dem sich nach diesem Inferno weniger denn je sagen lässt, ob er noch begrenzbar und vor allem beherrschbar ist.

Merkel als Ribbentrop

Es hätte sofort eine unabhängige Untersuchung des Flugzeugabsturzes geben müssen, sagen sie alle, der niederländische Premier Mark Rutte, Kanzlerin Angela Merkel, US-Präsident Barack Obama und so weiter. Durchaus nachvollziehbar, aber eben auch von parteiischer Gleichgültigkeit gegenüber der machtpolitischen Realität in der Ostukraine. Alle Beteiligten filtern das Geschehen durch Narrative, die sich aus ihren Positionen und Interessen im Ukraine-Konflikt ergeben.

Russland, vom Westen stets brüsk ermahnt, sich herauszuhalten, hält sich in ersten Reaktionen heraus. Die Autoritäten der Donezker Volksrepublik sind um den Nachweis bemüht, Autoritäten zu sein, finden den Flugschreiber und übergeben ihn nicht Russland, sondern Experten aus dem Herkunftsland der verunglückten Maschine, wie es international üblich ist. Und siehe da, das Gerät ist unbeschädigt.

Die Regierung in Kiew erkennt sofort, dass ihr die Katastrophe in die Hände spielt, um schärfere EU-Sanktionen gegen Russland zu erzwingen, die Moskau treffen und damit deren mutmaßliche Schutzbefohlenen in der Ostukraine. Gerade erst hat Kiew ungehalten auf das Gespräch zwischen Kanzlerin Merkel und Präsident Putin während des Finales der Fußball-WM und deren Aufruf zu Gesprächen mit den Aufständischen reagiert. In ukrainischen Medien wird Merkel mit dem Kopf von Hitlers Außenminister Ribbentrop versehen, wohl um jeden Ansatz einer deutsch-russische Verständigung in die Nähe des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 zu rücken.

Nicht ausgereizt

Und die EU? Sie dürfte nach der Flugzeugkatastrophe erst recht wissen, in der Ukraine mit einer Lage konfrontiert zu sein, aus der es derzeit keinen Ausweg gibt. Es sei denn, man erhöht den Einsatz: Durch harte Sanktionen – das vertieft den Bruch mit Russland, weil das Land wie der Iran, also wie ein „Schurkenstaat“ behandelt wird. Durch militärisches Engagement (UN-Truppen) – das birgt extreme Risiken. Indem Kiew veranlasst wird, auf die Restauration seiner Staatlichkeit im Osten (bis auf weiteres) zu verzichten – das bedeutet Gesichtsverlust.

Wie man sich auch entscheidet, im Hintergrund steht die Erkenntnis, dass aus dem Kampf um die Ukraine ein internationaler Konflikt wurde, dessen Eskalationsstufen noch längst nicht ausgereizt sind. Es ist einfach zu viel zu unaufhaltsam und zu endgültig in Bewegung geraten. Das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland wird auf eine hochbrisante Weise neu ausgerichtet und nähert sich einem Zustand, wie er der globalen Konkurrenz zwischen beiden Machtzentren entspricht. Die Ukraine-Krise wird zum Katalysator einer Konfrontation, die lange schon schwelt.

Verrirrt und verloren

Auch deshalb wirkten die OSZE-Beobachter, als sie das Planquadrat Absturzstelle in der Ostukraine betraten, wie verirrte Figuren oder Statisten Wenn es überhaupt Instrumente geben sollte, um postpolare Machtkonflikte dieser Dimension einzudämmen, gehört die OSZE nur bedingt dazu. Deren Mediation muss überfordert sein, wenn sich Staaten und Grenzen ändern. Schon der jugoslawische Bürgerkrieg hinterließ diese Erfahrung. Die OSZE kann nicht wirklich in das Geschehen eingreifen, sondern bestenfalls die Umstände „humanisieren“, die daraus resultieren, und sich – zum Beispiel – mehr um das Schicksal der Bevölkerung in der Ostukraine zu kümmern. Bisher bleibt sie dabei zu viel schuldig.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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