Absturz, Sturz, Umsturz?

Ukraine Die Frage ist nicht von vornherein müßig, wie Viktor Janukowitsch die Präsidentschaft verlor. Damit hängt auch die Legitimation der Übergangsadministration zusammen
Die Maidan-Kämpfer wollen voerst auf dem Posten bleiben
Die Maidan-Kämpfer wollen voerst auf dem Posten bleiben

Foto: Bulent Kilic / AFP

In der Politik entscheiden in der Regel Machtverhältnisse und die sie prägenden Umstände darüber, was geschieht. Augenblicklich sind Letztere in Deutschland von der Art, dass in Berlin die Besetzung von Teilen des Regierungsviertels, inklusive des Platzes vor dem Reichstag, kaum zu erwarten ist. Sollte sich das ändern, wird es aufschlussreich sein, wie lange Staatsschutz und Polizei Barrikaden, brennende Autoreifen und mit Molotow-Cocktails bewehrte Besetzer an diesen Orten dulden. Wer zuweilen an Demonstrationen in der Bundeshauptstadt teilnimmt, der weiß, dass sich die Angriffslust von Polizeistaffeln an weitaus nichtigeren Anlässen entzündet.

Ehrlichkeit oder auch Wahrhaftigkeit gebieten es, vom gesetzlich sanktionierten Selbstschutz jeder Administration auszugehen, ob nun in Berlin oder Kiew. Den einen die Bannmeile, den anderen die Belagerung – das zeugt von einem eher selektiven Rechtsverständnis. Umsturz und Aufruhr stehen weltweit nirgendwo a priori über Recht und Gesetz – sprich: dem durch Wahlen entstandenen Mandat einer Exekutive. Diese Tatsache reflektiert ein normatives Grundproblem innerstaatlicher Konflikte, die wegen einer ausbleibenden Deeskalation gewaltsam ausgetragen werden. Ist es daher alles andere als müßig, der Frage nachzugehen, ob der Machtwechsel in Kiew einem Staatsstreich gleichkommt.

Akt der Nötigung

Dem Anti-Janukowitsch-Lager ist vorzuwerfen, sich keine 24 Stunden an den Kompromissvertrag mit der Regierung vom 21. Februar gehalten und der Dynamik – oder auch Macht – der Straße nachgegeben zu haben, als trotz des Agreements ein Sturm auf den Präsidentensitz angedroht war. Den aufzuhalten oder zuzulassen, hätte erneutes Blutvergießen heraufbeschworen. Möglicherweise schlimmer als am „schwarzen Donnerstag“. Um das zu vermeiden, hatte Viktor Janukowitsch keine andere Wahl, als Kiew zu verlassen.

Wenn jemand dafür besonders dankbar sein musste, dann die Troika der EU-Außenminister. Durch diesen Abgang blieb es Steinmeier, Fabius und Sikorski erspart, das Resultat ihrer Vermittlung gegenüber allen Konfliktparteien zu verteidigen. Sie mussten nicht als überparteiliche Emissäre in Erscheinung treten. Mit ihnen blieb die EU, was sie seit Ausbruch der ukrainischen Staatskrise war: Schutzpatron der Opposition, aus dem kurzzeitig ein Schirmherr des Kompromisses vom 21. Februar wurde. Als der nach 24 Stunden erledigt war, weil sich die Opposition nicht daran hielt, schien auch dieses Mandat erledigt. Wirklich? Hätte sich die Troika nicht zu Janukowitschs Präsidentschaft bekennen müssen?

Sie war durch das Abkommen „bis zu Neuwahlen noch in diesem Jahr“, wie es darin hieß, nicht in Frage gestellt, sondern Teil des Kompromisses.

Wenn plötzlich das Parlament Janukowitsch für abgesetzt erklärt – warum fragt niemand nach der Legitimität dieses Votum und der Legitimation dieses Gremiums? Schließlich galt die Mehrheit der Legislative bislang ebenso als Teil des „ancien regime“ wie die Exekutive. Noch im Dezember hatte sie einen Misstrauensantrag gegen die Regierung von Premier Asarow abgeschmettert und damit nach der im Westen geltenden Lesart die Krise verschärft. Überdies hatte die EU stets zu verstehen gegeben, dass die Lage ohne Machtverzicht Janukowitschs nicht zu bereinigen sei.

Es ist allerdings ein normatives Unding, einen inneren Konflikt dadurch lösen zu wollen, indem die eine Seite zur Kapitulation genötigt und der anderen zum Durchbruch verholfen wird (zumal es wegen der prekären Finanzlage der Ukraine im November nachvollziehbare Gründe gab, die EU-Assoziierung auf Eis zu legen). Also noch einmal: Wie souverän und legitimiert wurde die Demission Janukowitschs bewirkt, wenn zwei existenzielle Gefahren – die Gewalteskalation und der Staatsbankrott – eine Situation der Nötigung heraufbeschwören?

Um den Eingangsgedanken aufzugreifen: Die Machtverhältnisse in Kiew haben in archaischer Weise über Machtverzicht und Machtgebrauch entschieden. Doch die Machtverhältnisse dort sind nicht die Machtverhältnisse in der Ukraine.

Inzwischen wird auf teilweise abenteuerliche Begründungen zurückgegriffen, um den Abgang Janukowitschs vom Geruch des Staatsstreichs zu befreien. Seine Wahl zum Präsidenten am 7. Februar 2010 sei in einem Maße manipuliert worden, dass die daraus hervorgegangene Regierung stets illegitim gewesen sei. Abgesehen davon, dass jenem Votum von EU- und OSZE-Wahlbeobachtern ein regulärer Verlauf bescheinigt wurde, was sich überall nachlesen lässt, würde es doch erstaunen, sollte die ansonsten in Rechtsfragen so penible EU jahrelang mit einer insgeheim für illegal gehaltenen Administration ein Assoziierungsabkommen ausgehandelt haben. War sie blind oder ignorant oder doch der Überzeugung, einen hinreichend mandatierten Klienten vor sich zu haben?

Ranking CCC

Es verdient in diesem Zusammenhang erinnert zu werden, dass die nach der Orangenen Revolution von 2004 gebildete Regierung in Brüssel sehr viel weniger gelitten war als deren Erbe Janukowitsch. Präsident Viktor Juschtschenko und seine zeitweilige Premierministerin Julia Timoschenko galten wegen ihrer persönlichen Rivalität und einem sturen Lagerdenken als wenig prädestiniert, die Ukraine von ihren inneren Wirren zu befreien und zu befrieden.

Die schon damals angemahnten Reformen unterblieben nicht anders als unter Janukowitsch. Die „Orangene Koalition“ war wenige Monate nach der „Orangenen Revolution“ ein einziger Scherbenhaufen. Um nur ein Beispiel zu nennen, der Ton wurde so rau, dass Juschtschenkos Kabinettschef Wadim Baloga im Sommer 2008 auf einer Pressekonferenz zum Besten gab, Julia Timoschenko habe sich für eine Milliarde Dollar „den Russen verkauft“.

Gegen Ende seiner Amtszeit war die wirtschaftliche Bilanz Juschtschenkos derart verheerend, dass er bei der Präsidentenwahl 2010 gerade noch auf 5,4 Prozent der Stimmen kam. Seit der Unabhängigkeit von 1991 hatte kein ukrainischer Staatschef einen solchen Vertrauensverlust einstecken müssen. Allein 2009 war die Ökonomie mit einem Rückgang des BIP um 15 Prozent katastrophal eingebrochen. Seither schrumpfen die Devisenreserven und liegen derzeit gerade noch bei 17,8 Milliarden Dollar. Wie soll der ukrainische Staat Zinsen und Tilgungen von Krediten gegenüber dem IWF, amerikanischen Investmentfonds wie Franklin Templeton und österreichischen Banken von 27 Milliarden Dollar zurückzahlen, die noch in diesem Jahr fällig werden. Kein Wunder, wenn die Rating-Agenturen Standard and Poor's sowie Fitch die Kreditwürdigkeit des Landes auf den Wert CCC herab stufen – das heißt Trash-Niveau, nicht zahlungsfähig. In der Eurozone wird das CCC nicht einmal mehr Griechenland zugeordnet, dem trotzdem der Zugang zu den Finanzmärkten nach wie vor versperrt bleibt.

Auflagen des IWF

Wie souverän kann eine künftige Regierung in Kiew sein, der ein Staatsbankrott wie mögliche Geldgeber im Nacken sitzen? Egal, woher die kommen – es werden keine altruistischen Gönner, sondern kompromisslose Sanierer sein, die auch fragen könnten, was der brennende Maidan die ukrainische Ökonomie gekostet hat. Als die Regierung Janukowitsch im Vorjahr beim IWF über neue Kredite sondierte, wurde ihr unumwunden erklärte, was sie als Vorleistung zu erbringen habe: Sämtliche Subventionen für private Haushalte beim Gaspreis streichen, was diesen verdoppelt hätte. Den Arbeitsmarkt nach westeuropäischen Vorbild sanieren und die ostukrainische Schwerindustrie auf den Prüfstand stellen. Janukowitsch lehnte ab, um die Bevölkerung nicht gegen sich aufzubringen – es sollte ihn nicht retten.

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