In der Politik entscheiden in der Regel Machtverhältnisse und die sie prägenden Umstände darüber, was geschieht. Augenblicklich sind Letztere in Deutschland von der Art, dass in Berlin die Besetzung von Teilen des Regierungsviertels, inklusive des Platzes vor dem Reichstag, kaum zu erwarten ist. Sollte sich das ändern, wird es aufschlussreich sein, wie lange Staatsschutz und Polizei Barrikaden, brennende Autoreifen und mit Molotow-Cocktails bewehrte Besetzer an diesen Orten dulden. Wer zuweilen an Demonstrationen in der Bundeshauptstadt teilnimmt, der weiß, dass sich die Angriffslust von Polizeistaffeln an weitaus nichtigeren Anlässen entzündet.
Ehrlichkeit oder auch Wahrhaftigkeit gebieten es, vom gesetzlich sanktionierten Selbstschutz jeder Administration auszugehen, ob nun in Berlin oder Kiew. Den einen die Bannmeile, den anderen die Belagerung – das zeugt von einem eher selektiven Rechtsverständnis. Umsturz und Aufruhr stehen weltweit nirgendwo a priori über Recht und Gesetz – sprich: dem durch Wahlen entstandenen Mandat einer Exekutive. Diese Tatsache reflektiert ein normatives Grundproblem innerstaatlicher Konflikte, die wegen einer ausbleibenden Deeskalation gewaltsam ausgetragen werden. Ist es daher alles andere als müßig, der Frage nachzugehen, ob der Machtwechsel in Kiew einem Staatsstreich gleichkommt.
Akt der Nötigung
Dem Anti-Janukowitsch-Lager ist vorzuwerfen, sich keine 24 Stunden an den Kompromissvertrag mit der Regierung vom 21. Februar gehalten und der Dynamik – oder auch Macht – der Straße nachgegeben zu haben, als trotz des Agreements ein Sturm auf den Präsidentensitz angedroht war. Den aufzuhalten oder zuzulassen, hätte erneutes Blutvergießen heraufbeschworen. Möglicherweise schlimmer als am „schwarzen Donnerstag“. Um das zu vermeiden, hatte Viktor Janukowitsch keine andere Wahl, als Kiew zu verlassen.
Wenn jemand dafür besonders dankbar sein musste, dann die Troika der EU-Außenminister. Durch diesen Abgang blieb es Steinmeier, Fabius und Sikorski erspart, das Resultat ihrer Vermittlung gegenüber allen Konfliktparteien zu verteidigen. Sie mussten nicht als überparteiliche Emissäre in Erscheinung treten. Mit ihnen blieb die EU, was sie seit Ausbruch der ukrainischen Staatskrise war: Schutzpatron der Opposition, aus dem kurzzeitig ein Schirmherr des Kompromisses vom 21. Februar wurde. Als der nach 24 Stunden erledigt war, weil sich die Opposition nicht daran hielt, schien auch dieses Mandat erledigt. Wirklich? Hätte sich die Troika nicht zu Janukowitschs Präsidentschaft bekennen müssen?
Sie war durch das Abkommen „bis zu Neuwahlen noch in diesem Jahr“, wie es darin hieß, nicht in Frage gestellt, sondern Teil des Kompromisses.
Wenn plötzlich das Parlament Janukowitsch für abgesetzt erklärt – warum fragt niemand nach der Legitimität dieses Votum und der Legitimation dieses Gremiums? Schließlich galt die Mehrheit der Legislative bislang ebenso als Teil des „ancien regime“ wie die Exekutive. Noch im Dezember hatte sie einen Misstrauensantrag gegen die Regierung von Premier Asarow abgeschmettert und damit nach der im Westen geltenden Lesart die Krise verschärft. Überdies hatte die EU stets zu verstehen gegeben, dass die Lage ohne Machtverzicht Janukowitschs nicht zu bereinigen sei.
Es ist allerdings ein normatives Unding, einen inneren Konflikt dadurch lösen zu wollen, indem die eine Seite zur Kapitulation genötigt und der anderen zum Durchbruch verholfen wird (zumal es wegen der prekären Finanzlage der Ukraine im November nachvollziehbare Gründe gab, die EU-Assoziierung auf Eis zu legen). Also noch einmal: Wie souverän und legitimiert wurde die Demission Janukowitschs bewirkt, wenn zwei existenzielle Gefahren – die Gewalteskalation und der Staatsbankrott – eine Situation der Nötigung heraufbeschwören?
Um den Eingangsgedanken aufzugreifen: Die Machtverhältnisse in Kiew haben in archaischer Weise über Machtverzicht und Machtgebrauch entschieden. Doch die Machtverhältnisse dort sind nicht die Machtverhältnisse in der Ukraine.
Inzwischen wird auf teilweise abenteuerliche Begründungen zurückgegriffen, um den Abgang Janukowitschs vom Geruch des Staatsstreichs zu befreien. Seine Wahl zum Präsidenten am 7. Februar 2010 sei in einem Maße manipuliert worden, dass die daraus hervorgegangene Regierung stets illegitim gewesen sei. Abgesehen davon, dass jenem Votum von EU- und OSZE-Wahlbeobachtern ein regulärer Verlauf bescheinigt wurde, was sich überall nachlesen lässt, würde es doch erstaunen, sollte die ansonsten in Rechtsfragen so penible EU jahrelang mit einer insgeheim für illegal gehaltenen Administration ein Assoziierungsabkommen ausgehandelt haben. War sie blind oder ignorant oder doch der Überzeugung, einen hinreichend mandatierten Klienten vor sich zu haben?
Ranking CCC
Es verdient in diesem Zusammenhang erinnert zu werden, dass die nach der Orangenen Revolution von 2004 gebildete Regierung in Brüssel sehr viel weniger gelitten war als deren Erbe Janukowitsch. Präsident Viktor Juschtschenko und seine zeitweilige Premierministerin Julia Timoschenko galten wegen ihrer persönlichen Rivalität und einem sturen Lagerdenken als wenig prädestiniert, die Ukraine von ihren inneren Wirren zu befreien und zu befrieden.
Die schon damals angemahnten Reformen unterblieben nicht anders als unter Janukowitsch. Die „Orangene Koalition“ war wenige Monate nach der „Orangenen Revolution“ ein einziger Scherbenhaufen. Um nur ein Beispiel zu nennen, der Ton wurde so rau, dass Juschtschenkos Kabinettschef Wadim Baloga im Sommer 2008 auf einer Pressekonferenz zum Besten gab, Julia Timoschenko habe sich für eine Milliarde Dollar „den Russen verkauft“.
Gegen Ende seiner Amtszeit war die wirtschaftliche Bilanz Juschtschenkos derart verheerend, dass er bei der Präsidentenwahl 2010 gerade noch auf 5,4 Prozent der Stimmen kam. Seit der Unabhängigkeit von 1991 hatte kein ukrainischer Staatschef einen solchen Vertrauensverlust einstecken müssen. Allein 2009 war die Ökonomie mit einem Rückgang des BIP um 15 Prozent katastrophal eingebrochen. Seither schrumpfen die Devisenreserven und liegen derzeit gerade noch bei 17,8 Milliarden Dollar. Wie soll der ukrainische Staat Zinsen und Tilgungen von Krediten gegenüber dem IWF, amerikanischen Investmentfonds wie Franklin Templeton und österreichischen Banken von 27 Milliarden Dollar zurückzahlen, die noch in diesem Jahr fällig werden. Kein Wunder, wenn die Rating-Agenturen Standard and Poor's sowie Fitch die Kreditwürdigkeit des Landes auf den Wert CCC herab stufen – das heißt Trash-Niveau, nicht zahlungsfähig. In der Eurozone wird das CCC nicht einmal mehr Griechenland zugeordnet, dem trotzdem der Zugang zu den Finanzmärkten nach wie vor versperrt bleibt.
Auflagen des IWF
Wie souverän kann eine künftige Regierung in Kiew sein, der ein Staatsbankrott wie mögliche Geldgeber im Nacken sitzen? Egal, woher die kommen – es werden keine altruistischen Gönner, sondern kompromisslose Sanierer sein, die auch fragen könnten, was der brennende Maidan die ukrainische Ökonomie gekostet hat. Als die Regierung Janukowitsch im Vorjahr beim IWF über neue Kredite sondierte, wurde ihr unumwunden erklärte, was sie als Vorleistung zu erbringen habe: Sämtliche Subventionen für private Haushalte beim Gaspreis streichen, was diesen verdoppelt hätte. Den Arbeitsmarkt nach westeuropäischen Vorbild sanieren und die ostukrainische Schwerindustrie auf den Prüfstand stellen. Janukowitsch lehnte ab, um die Bevölkerung nicht gegen sich aufzubringen – es sollte ihn nicht retten.
Kommentare 5
...wie ich kürzlich schon bemerkte: Mitleid mit den demonstranten, die wissen konnten, was von EU und IWF zu erwarten war, ist vollkommen fehl am platze! Die 'revolutionäre' bekommen jetzt die verdiente quittung - für politische dummheit und 'reaktionäre korruption', denn nichts anderes ist die bezahlung von demonstranten durch ausländische mächte.
Aber wenn herr Herden meint:
Wenn plötzlich das Parlament Janukowitsch für abgesetzt erklärt – warum fragt niemand nach der Legitimität dieses Votum und der Legitimation dieses Gremiums?
so zeugt das doch von einer erstaunlichen naivität (hätte ich ihm nicht zugetraut!).
Wer soll denn "legitimiert" sein - in den augen des "westens"? Ganz einfach: Immer der, der das gewünschte ergebnis hervorbingt! Eine solche frage überhaupt aufzuwerfen, verrät ein völliges unverständnis bürgerlicher demokratie, die von herr H. offensichtlich von der fassade her 'verstanden' wird. Da durfte wahrlich mehr erwartet werden...aber vielleicht bin ich auch nur zu naiv, was den FREITAG angeht.
Zum Thema Ukraine ist leider unglaublich viel Propaganda unterwegs, was bei russischen Quellen wenig überrascht, bei den deutschen allerdings schon auffällig extrem ist (ich meine jetzt nicht den Freitag). Da überrascht es nicht, dass viele dem russischen Regierungssender RT auf den Leim gehen. Die beiden besten Zusammenfassungen bisher fand ich hier und hier,
http://www.freitag.de/++theme++freitag.theme/images/avatar_tile.pngKMoya
Danke für den Beitrag, es lässt sich in der Tat nicht übersehen, dass Staatschefs oder eben "Herrscher" im Westen kriminalisiert werden, wenn ihr Abgang dringend erwünscht ist. Die Beispiele reichen von Milosevic, über Assad, Gaddafi bis hin zu Janukowitsch. Dann werden auch die eifrigsten Verteidiger der Menschenrechts ganz schnell zu Anwälten unmenschlicher Gewaltfanatasien. Deutschen Zeitungen druckten am Wochenende und am Monat beispielsweise völlig unkommentiert den Wunsch etlicher "Maidan"-Besetzer, Janukowitsch möge enden wie Gaddafi, den man bekanntlich "gepfählt" hat - einer barbarischen Tötungsart, die pures Entsetzen auslösen müsste. Aber in Deutschland – dem Mutterland der Menschenrechte, wie man inzwischen glauben soll – hat sich darüber seinerzeit kaum jemand aufgeregt.
Ich beklage ich zutiefst den Einfluss der Svoboda-Faschisten und der Nazis des Rechten Blocks auf die derzeitige Politik.
Einseitige, populistische Beschlüsse sind die Folge, Rache-Justiz, Aufhebung des Sprachgesetzes, vermutlich mehrere Faschisten in der neuen Regierung.
Andrej Parubij, Kommandant des Protestlagers auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan wird sehr wahrscheinlich Verteidigungsminister der neuen Regierung.
Er hatte mehrmals im Parlament Gesetzentwürfe eingebracht, dass die Schwarzmeerflotte nicht mehr auf der Krim anwesend sein soll. Eine weitere Provokation.
ABER ich bin mir sicher, dass dies nur daran liegt, dass die Rechten 20-30% der aktiven Kämpfer und 30-50% der Toten stellten - sie sind halt aktiver, extremistischer und haben den ansonsten sicher nicht rechten, sondern eher gerechten Kampf des Maidan vereinnahmt und radikalisiert. Ich verabscheue dieses Gesindel. Ich hoffe aber sehr darauf, dass diese Kräfte spätestens bis Mai wieder ins politische Abseits gerückt werden.
UND man sollte schon differenzieren, dass nicht 10% der Ukrainer oder 33% der Lemberger Faschisten sind, auch wenn sie sie gewählt haben. Auch bei uns haben NPD oder Republikaner ja schon an die 10% bekommen.
Svoboda war für viele Lemberger wohl die einzige Partei, die nicht wie Timoschenkos oder Janukowitschs Leute korrupt und/oder von Oligarchen bestimmt waren.
Auch in Österreich wählten über 20% die Rechtsextremen, die allermeisten wohl aus Protest gegen das Etablierte.
Interessanter als die Faschisten ist doch wohl die Rolle der USA und ihrer Transatlantiker, die laut Nuland in den letzten Jahren 5 Mrd. US$ in der Ukraine investiert haben.
Und die ja in dem berühmten Telefonat schon die Posten einer neuen Ukrinischen Regierung verteilt haben.