Auf der Himmelsleiter

2003 Vor gut zehn Jahren wird der Spielfilm „Was nützt die Liebe in Gedanken“ über ein "Schülerdrama" von 1927 gedreht und dem süßen Vogel Jugend zur Weltflucht verholfen
Ausgabe 50/2013

"Es geht dem Anfang zu“, heißt es am Ende des Romans Die Mietskaserne von Ernst Erich Noth aus dem Jahr 1931. Im letzten Kapitel kehrt der 19-jährige Albert Krause – das Abitur und ein Stipendium in der Tasche – Berlin den Rücken, um irgendwo im Westen Deutschlands zu studieren. Was lässt er zurück? Wenig, um das zu trauern lohnt, und doch so viel, dass die Abreise zum schmerzhaften Abschied wird. Zu gehen kostet ihn das Leben, aus dem er kommt. Ein würgendes Gefühl steckt in der Kehle, als er ein letztes Mal in den grauen Himmel über der grauen Mietkaserne schaut, die noch eben sein Zuhause war und niemanden leicht entkommen lässt, sondern fest umklammert hält, was dazu gehört: die grindigen Wände, den Geruch von Kohle und Kohl im Treppenhaus, die Kakerlaken, die schweren Körper, die verwelkten Gesichter.

Jetzt aber steht Albert im abfahrbereiten Zug am Fenster, ringsherum werden Türen zugeschlagen, Wurstverkäufer schreien, Hände winken. Wenigstens wartet Freund Fritz unten auf dem Perron, bis der Zug anruckt. Zunächst gleiten die Wagen nur ganz langsam davon. „Fritz läuft plötzlich mit. ‚Albert –?‘ – ‚Ja?‘ ruft der laut zurück. Fritz berührt flüchtig die heraushängende Hand. ‚Alter Quatschkopf –‘. Ein letztes Lächeln, dann dreht er sich hart um, zieht den Hut mit heftigem Ruck tief in die Stirn und verschwindet in der Menge ...“

Mit diesem grandiosen Finale endet ein Roman, der sofort zehntausendfachen Anklang findet. Er beschreibt eine Jugend der Außenseiter und Abgedrängten, von der die Literatur der Weimarer Republik gewöhnlich nur selten Notiz nimmt. Doch wer zeichnet als Autor – wer ist dieser Ernst Erich Noth?

In Rage geschwitzt

Sehr viel später – die Asche der Scheiterhaufen, auf denen die Nazis auch dieses Buch verbrennen, ist lange verflogen – wird sich herausstellen, dass es der 1931 erst 22-jährige Paul Krantz war. Unter diesem Namen freilich durfte der Roman nicht erscheinen. Es hätte Erinnerungen wachgerufen – oder besser heraufbeschworen – an einen Sensationsprozess, der Anfang 1928 vor dem Schwurgericht in Berlin-Moabit vor lüsternen Ohren und Augen über die Bühne ging. Der Angeklagte dieses Tribunals hieß Paul Krantz und war Überlebender der „Steglitzer Schülertragödie“, wie bis heute genannt wird, was sich am Morgen des 28. Juni 1927 in einer gutbürgerlichen Wohnung mitten in Berlin-Steglitz abgespielt hat: Paul Krantz und sein Schulfreund Günther Scheller wollen mit ihrem soeben gegründeten „Selbstmörderclub“ zur Tat schreiten. Sie haben sich in Rage geschwitzt, viele Zigaretten geraucht, Verse ausgestoßen und am Küchentisch Abschiedsbriefe verfasst. Nun wollen sie Rache nehmen an den Menschen, die sie lieben und die sie um ihre Liebe betrogen haben. Scheller verzweifelt an der unerfüllten Leidenschaft zum Kochlehrling Hans Stephan, der im Zimmer nebenan mit seiner Schwester Hilde eine Liebesnacht hinter sich bringt. Das Hildchen – „Männe“ genannt – hatte sich eigentlich Paul Krantz zugewandt, ihn dann abblitzen lassen und mit einem kleinen Gedicht verspottet: „Was nützt die Liebe in Gedanken / Kommt die Gelegenheit, dann kannst Du’s nicht.“

So nehmen Irrungen und Wirrungen ihren Lauf. Scheller erschießt an jenem Morgen erst den untreuen Hans und dann sich selbst. Krantz will ihm folgen, setzt die Pistole an die Schläfe und wieder ab. Mancher tötet, was er liebt, nur stirbt nicht jeder dabei. Der Selbstmörderclub hat in diesem Augenblick ausgesorgt, so brennend die Todessehnsucht auch sein mag – übermächtig ist sie nicht.

Am 20. Februar 1928 wird Paul Krantz von der Doppelmordanklage freigesprochen und nur wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt, doch ist die Strafe mit der Untersuchungshaft verbüßt. Der Angeklagte ist frei, aber nicht rehabilitiert, sondern stigmatisiert als Ausbund einer moralisch zerrütteten Jugend. Deshalb wählt Paul Krantz das Pseudonym Ernst Erich Noth, als er seinen Roman vollendet und mit Albert Krause einen Helden geschaffen hat, der Paul Krantz heißen könnte. Es ist seine Geschichte.

Nach einem ersten eher misslungenen Versuch noch vor 1933 (Geschminkte Jugend, Regie Carl Boese) wird die Steglitzer Schülertragödie vor gut zehn Jahren durch Achim von Borries erneut verfilmt, diesmal als opulentes Seelenpoem in schwüler Sommerlandschaft mit Daniel Brühl (Paul Krantz), August Diehl (Günther Scheller), Anna Maria Mühe (Hilde Scheller) und Thure Frank Lindhardt (Hans Stephan) in den Hauptrollen. Die Tragödie darf als Melodram auftrumpfen, der süße Vogel Jugend kreisen, bis er vom Himmel kracht.

Unverkennbar das Bemühen, eine fast vergessene Geschichte mit dem Charisma des Zeitlosen zu segnen und auf die Botschaft zu trimmen: Schaut her, vier junge Menschen pendeln zwischen Liebe, Verrat und Tod. Weil ihnen dabei das Leben entgleitet, werden sie zu fallenden Steinen, die niemand auffängt, weil sie niemand auffangen kann. Das war so, das wird immer so sein. Von Borries beteuert, keinen „historischen Film“ gewollt zu haben.

Scheller und Krantz wollen aussteigen, wenn sie „am glücklichsten sind“, wenn der „höchste Punkt“ erreicht ist, schreiben sie in die Statuten ihres Selbstmörderclubs. Die Regie schenkt dieser Hybris viel Sympathie und noch mehr ästhetische Poesie, dass es ein entrückter Planet zu sein scheint, auf dem sich alles abspielt. Das Landhaus der Schellers bei Berlin-Mahlow – hier kann dieser Amoklauf der Seelen so richtig Fahrt aufnehmen – wird als hermetisches Idyll, der Hochsommer über dunklen Wäldern und flachsgelben Feldern als surrealistisches Elysium gezeigt. Ein einziger Garten Eden, in dem die Zeit stillsteht. „Es ist doch alles gut jetzt, es ist doch alles da“, flüstert Hilde, als sie tanzen und Absinth trinken und nicht ahnen, dass Günther gerade seine Abschiedsfeier gibt.

Liebestolles Nymphchen

Der Streifen ist mit seinen tragischen Figuren derart ausgelastet, dass er andere Umstände des Geschehens nur sehr am Rande gelten lässt. Die Eltern der Scheller-Geschwister etwa. Sie sind auf Geschäftsreise und zum Ausspannen in Dänemark, klingt kurz an. Offenbar blieb ihnen verborgen, welch trostlose Geschöpfe die Kinder doch sind. Und in welcher Gefahr sie schweben: Der in selbstquälerischen Phantasien ertrinkende Sohn – Hilde, das liebestolle Nymphchen, die sich an Jungen angelt, was da ist. Wo bleiben die Lehrer, vor denen bald zwei Tote stehen werden? Auch wenn Krantz und Scheller die Todesglut selbst entfachen, gab es keinen, der sie löschen konnte? Gar musste? Statt Antworten zu geben, will Achim von Borries lieber die Aura seines Werkes auskosten.

Direkt vor dem Abspann und längst auf der Himmelsleiter unterwegs, hat Günther Scheller aus dem Off das letzte Wort: „Liebes Weltall, niemand soll uns auch nur eine Träne nachweinen. Wir haben das einzig Richtige getan – wir haben gelebt.“ Wirklich? Müsste es nicht heißen, wir haben uns ausgelebt? Was nicht lange gut gehen konnte bei so viel Verstiegenheit und Übermut, die sich der süße Vogel locker erlaubt, wenn es nicht weiter darauf ankommt, wo er abstürzt und wen es dabei trifft? Und Paul Krantz – der Mitverschworene, der Freischüler am Gymnasium, der Prolet vom Hinterhof, der kommende Dichter – hätte auch er das einzig Richtige getan, wäre nach einem Pistolenschuss seine Hirnmasse in der guten Stube der Schellers verteilt worden? Krantz hat diese Frage als Ernst Erich Noth beantwortet. Seinem Albert Krause aus der Mietskaserne gönnt er keine Weltflucht. Der muss zwar durch so viel Dreck waten, dass er alles, was glitzert, für eine göttliche Schönheit hält und fast untergeht, auch ohne Selbstmörderclub. Dann aber hebt er den Fehdehandschuh auf, den ihm eine ungerechte, selbstgefällige Gesellschaft hinwarf, damit er bleibt, was er ist. Albert Krause übernimmt Verantwortung für sich und kann deshalb diesen Zug besteigen, der ihn eine ganz andere Flucht antreten lässt als Günther Scheller. Vor sich den Schienenstrang wie ein eisernes Fragezeichen, als sollte der Sinn seines Lebens darin aufgehen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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