Lame Duck darf noch einmal fliegen oder wenigstens mit den Flügeln schlagen. James Dobbins, US-Sonderbotschafter für Afghanistan und Pakistan, gibt die Hoffnung nicht auf, dass Hamid Karzai doch das Sicherheitsabkommen mit den USA unterzeichnet. Und zwar in Kürze, weil der scheidende Staatschef gar nicht anders kann, als seinen Segen zu geben.
Denn es ist denkbar, dass Afghanistan mit der ersten Runde der Präsidentenwahl am 5. April in eine explosive Lage taumelt, die zum Eingreifen von ISAF-Verbänden, besonders von US-Truppen, führt. Urheber wären die Taliban, falls sie bei ihrer vehementen Wahlsabotage bleiben – weiter Anschläge verüben, Wahlbüros zerstören oder die Abstimmung verbieten, sofern sie als lokale Autorität dazu fähig sind. Doch gleicht auch das Votum selbst einem Tanz auf glühenden Kohlen und könnte erneut in einen Zustand innerer Selbstzerfleischung münden. Wie bei der Präsidentenwahl 2009 droht Streit über die Auszählung und über Manipulationen, etwa im Voraus mit ausgefüllten Stimmzetteln präparierte Wahlurnen. Von den neun Kandidaten des ersten Wahlgangs liegen die drei aussichtsreichsten – Ex-Finanzminister Ashraf Ghani sowie die beiden früheren Außenminister Abdullah Abdullah und Zalmay Rassoul (s. unten) – in den Umfragen nicht weit auseinander, auch wenn die vorliegenden Werte kein verlässliches Barometer abgeben. So viel aber steht fest, von den Großen Drei kommen nur zwei in die Stichwahl. Wird der Unterlegene sich fügen? Oder schwerem Verdruss aggressiv Ausdruck geben? In Artikel 61 der afghanischen Verfassung heißt es: „Erhält kein Bewerber im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen, findet innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des ersten Wahlergebnisses (!) ein zweiter Wahlgang statt.“ Mit anderen Worten, der Termin eines Stechens steht nicht fest und hängt von der Nationalen Wahlkommission ab. Dass der misstraut wird, war dem Wahlkampf der Spitzenleute immer dann zu entnehmen, wenn sie als erklärte Feinde der staatstypischen Korruption auftraten.
Und doch schien es besonders bei Ashraf Ghani zweifelhaft, wie der Ex-Banker für Vertrauen werben wollte. Er präsentierte einen potenziellen Vizepräsidenten, der zwar die knallharte Machtoption verkörpert, aber zugleich abschreckt: Abdul Raschid Dostum, Warlord des Brutalo-Kalibers und Führer der usbekischen Minderheit (fünf Prozent der Bevölkerung), dessen Milizen in der Vergangenheit immer wieder Breschen in die Reihen gegnerischer Paschtunen schlugen, ohne Gefangene zu machen. Dostum müsste eigentlich wegen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt werden. Stattdessen schickt er sich an, nach der Präsidentschaft zu greifen; denn sollte Ashraf Ghani die Wahl gewinnen und eines Tages – aus welchen Gründen auch immer – ein Nachfolger gebraucht werden, er stünde sicher bereit.
Da fühlen sich viele Paschtunen (42 Prozent der Bevölkerung) beim bisherigen Außenminister Zalmay Rassoul besser aufgehoben, der sein Amt aufgab, als die Wahlkampagne begann. Rassoul hofft, mit dem Verweis auf familiäre Bindungen zu Mohammed Sahir Schah (1914 – 2007), dem letzten afghanischen König, zu reüssieren – man findet auf seinen Wahlpostern häufig Honoratioren des Königshauses.
Schmachvolle Niederlage
Und dann ist da noch Abdullah Abdullah, einer der engen Berater des 2001 ermordeten Führers der Nordallianz, Ahmad Schah Massoud. Dem Ex-Außenminister ist esgelungen, seine Dschamiat-i Islāmi mit ehemaligen Bürgerkriegsgegnern wie der Hizb-i Islāmī und Wahdat-e-Islami zu versöhnen und in eine Wahlfront zu führen. Der am 9. März verstorbene Vizepräsident Qasim Fahim soll erklärt haben, er wolle diesen Politiker selbst an die Hand nehmen und in den Präsidentenpalast führen.
Ein Nachkriegskonzept, das dem kaleidoskopartigen Charakter der afghanischen Gesellschaft gerecht würde, hat bisher freilich keiner der drei Granden vorgelegt. Alle sind zu eng mit Clan-Interessen verwoben, als dass einer von ihnen nach dem 5. April zur großen Integrationsfigur aufsteigen könnte. Daher will kaum jemand ausschließen, dass bei einem Streit um das Wahlergebnis aus Rivalen um die Macht abrupt Gegner eines erbitterten Machtkampfes werden, der dazu zwingt, sich des Stabilitätsgaranten Karzai zu erinnern. Auf wen sonst soll sich US-General Joseph Dunford als ISAF-Kommandeur beziehen, will er eine Eskalation aufhalten? Es bliebe nur der überparteiliche Amtsinhaber – James Dobbins könnte also recht haben.
Längst werden Szenarien erwogen, die wie zwischen 1992 und 1995 mit einem Bürgerkrieg entlang ethnisch-religiöser Bruchlinien kalkulieren – im Süden und Osten die Taliban, im Norden die Nationale Koalition als Erbe der Nordallianz. Sollte das Land zerfallen, wäre gleichfalls mit einer Erosion der Nationalarmee (ANA) zu rechnen und die NATO vor eine wahrlich schicksalhafte Entscheidung gestellt: Bleibt es trotzdem bei der Ausbildungs- und Beratungsmission Resolute Support mit 8000 bis 12.000 Mann, wenn Ende 2014 alle ISAF-Verbände aussteigen? Bisher haben sich nur die USA, Großbritannien, Polen und Deutschland als Truppensteller angeboten, die meisten Bündnisstaaten zaudern oder winken ab. Schon jetzt gilt die Sicherheitslage am Hindukusch als prekär, da seit Mitte 2013 Monat für Monat etwa 400 Soldaten der Nationalarmee bei Gefechten mit Aufständischen ums Leben kamen. Endet unter diesen Umständen die ISAF-Mission mit einem Fiasko, und bleibt Afghanistan schon bald sich selbst überlassen, hätte die westliche Allianz Niederlage und Bedeutungsverlust zu verkraften.
Stiller Teilhaber
Ob die NATO ab 2015 eine Restpräsenz aufrechterhält oder darauf verzichtet, wird China nicht unberührt lassen, das sich durchaus als Stabilitätsanker erweisen könnte. Noch bedient Peking einen neutralen, betont entwicklungspolitischen Ansatz, dessen Credo lautet: More roads. More trade. Vorrang genießt aber nicht der afghanische Straßenbau, sondern die Stabilität Pakistans, eines strategischen Partners der Volksrepublik in Asien. Diese Allianz firmiert inzwischen als Anti-Terror-Verbund. In Peking ist man seit Jahren davon überzeugt, je instabiler Pakistan, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass dort militante uigurische Separatisten Brückenköpfe unterhalten, um zu Feldzügen in der Unruheprovinz Xinjiang aufzubrechen und sich des Beistandes der Taliban zu versichern. Solange die zwischen 1996 und 2001 in Kabul ihr Emirat regierten, hielt sich China an ein striktes Neutralitätsgebot und suchte – sekundiert vom pakistanischen Geheimdienst ISI – über die Shanghai-Five-Gruppe das Gespräch mit den Gottesfürchtigen. Sie sollten ihren Geltungsdrang auf Afghanistan begrenzen, ansonsten aller zentralasiatischen Ambition entsagen. Als die USA im Oktober 2001 als Reaktion auf 9/11 intervenierten und die Taliban aus Kabul vertrieben, ging die chinesische Neutralität bruchlos in ein ebensolches Verhältnis zu den Siegern über.
Mitte März nun gab es in Peking diskrete Gespräche zwischen hochrangigen US-Beamten und chinesischen Diplomaten, über die kaum berichtet wurde, was nur deren Bedeutung unterstreicht. Es ging um den Anteil Chinas an einer afghanischen Nachkriegsordnung und dessen Verantwortung für die sensible geopolitische Balance am Hindukusch. „Den Chinesen ist sehr bewusst, wie wir uns da auf einer Wellenlänge befinden“, hieß es aus der US-Delegation.
Nach dem Einmarsch der Amerikaner entstand zuweilen den Eindruck, China schätze das NATO-Protektorat Afghanistan mehr denn je als militärisch gesichertes Rohstofflager. Erdgas, Kupfer, Eisen und Lithium boten sich an, um im Reich der Mitte den Hunger nach Ressourcen zu stillen. 2008 schloss die China Metallurgical Group einen für 30 Jahre geltenden Pachtvertrag (Geschäftswert drei Milliarden Dollar) für das Mes Aynak-Gelände in der ostafghanischen Provinz Lugar ab, wo die weltweit größten Kupfervorkommen lagern. Dann aber verhinderten Taliban-Angriffe fast jede Förderung.
Barnett Rubin, bis vor kurzem Berater von James Dobbins, glaubt daher, es gäbe einen Zwang zur konzertierten Aktion. „Aggressive Taliban, die chinesische Minenarbeiter in Lugar angreifen, kommen aus Pakistan. Militante Uiguren, die den Westen Chinas attackieren, ebenfalls. Die Chinesen haben erkannt, dass Islamabad diesen Leuten nicht Einhalt gebieten kann. Also bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als sich mit den USA zu arrangieren oder Afghanistan zu verlassen. Vielleicht schon nach den Wahlen, falls die im Chaos enden.“
Die Großen Drei
Abdullah Abdullah (53)
Zum dritten Mal – nach den Präsidentenvoten von 2004 und 2009 – bewirbt sich Abdullah um das höchste Staatsamt. Vor fünf Jahren zog er sich in aussichtsreicher Position von der Stichwahl am 7. November 2009 mit Hamid Karzai zurück. Begründung: Da im ersten Wahlgang 1,3 Millionen Stimmen durch Betrug zustande kamen, müsse auch beim Stechen mit Manipulationen gerechnet werden.
Spannungen mit Karzai gab es bereits, als Abdullah 2006 sein Amt als Außenminister abgeben musste. Seit Dezember 2011 führt er die Nationale Koalition, die zwölf Parteien vereint. Abdullah weiß vor allem die tadschikische Volksgruppe hinter sich.
Prognose: 21 – 32 Prozent
Ashraf Ghani Ahmadzai (65)
Ein intellektueller Paschtune, der lange in den USA gelebt hat und im Fall seiner Wahl ein Partner der Amerikaner sein könnte. Regierungsverantwortung übernahm Ashraf Ghani 2002 bis 2004 als Finanzminister. Die gebotene Expertise erwarb er sich in den neunziger Jahren als Mit-arbeiter der Weltbank und deren Projektmanager für Ost- und Südasien, doch fiel für ihn ebenso ins Gewicht, dass er eng mit Lakhdar Brahimi kooperierte, als der algerische Diplomat von 1997 bis 1999 UN-Sondergesandter für Afghanistan war. Ghani wird urbane Paschtunen hinter sich bringen, aber für die Taliban kein legitimer Führer sein, da ihm die religiöse Aura fehlt. Prognose: 20 – 26 Prozent
Zalmay Rassoul (70)
Dieser Kandidat verbürgt Kontinuität zur bisherigen Administration, saß er doch als Minister in der Regierung Karzai. Rassoul hat wie Ashraf Ghani längere Zeit im westlichen Ausland gelebt, spricht Englisch und Französisch sowie die afghanischen Sprachen Dari und Paschto. Im Unterschied zu seinen Widersachern befürwortet der Diplomat direkte Verhandlungen mit den Taliban, die zur Regierungsbeteiligung führen können. Zugleich ist es für ihn keine Frage, dass die innere Ordnung Afghanistans vorerst nur durch ausländische Hilfe zu gewährleisten ist. Nach einem möglichen Wahlsieg will er den Sicherheitsvertrag mit den USA signieren.
Prognose: 6 – 9 Prozent
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