Auf Nummer sicher

Türkei Es hat sich für die AKP gelohnt, innerhalb eines halben Jahres zweimal wählen zu lassen, um sich wieder die ganze Macht zu verschaffen. An Wahlhelfern fehlte es nicht
AKP-Anhänger feiern in Ankara den Wahlsieg
AKP-Anhänger feiern in Ankara den Wahlsieg

Foto: ADEM ALTAN/AFP/Getty Images

Man sorgt für Chaos und Bürgerkrieg, um sich als Ordnungsmacht in Stellung zu bringen. In etwa die Hälfte der Wähler hat am 1. November 2015 Tayyip Erdoğan geglaubt (oder glauben wollen), dass bei ihm politische Macht und politische Verantwortung wenn nicht völlig identisch, so doch nahe beieinander liegen. Man kann die Zeit nach dem Votum vom 7. Juni, als der AKP mit 40,9 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit der Mandate abhanden kam, in Tagen messen.

Man kann ebenso auf andere Maßeinheiten zurückgreifen und die Toten zählen, die es in diesen 146 Tagen gab – die toten kurdischen Zivilisten, kurdischen Kämpfer, türkischen Soldaten, die mehr als 102 Opfer des Bombenanschlags auf eine Kundgebung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Ankara am 10. Oktober. Man kann die Übergriffe auf Wahlmeetings und Büros eben dieser Partei anführen, um die erneuten Verluste an demokratischer Kultur zu ermessen. Es ließe sich die Spaltung des Landes anführen, die nach dem 1. November noch ausgeprägter scheint, als sie es vor und nach dem 7. Juni war.

An Softpower verloren

Die AKP braucht nach den nunmehr erreichten gut 50 Prozent keinen dritten Wahlgang, keinen Koalitionär, keine Kompromisse, keine Korrektur in ihrer Kurden- und Syrien-Politik. Premier Ahmet Davutoğlu hat vor Tagen auf der AKP-Abschlusskundgebung die Wahl zur Abstimmung über die Zukunft der Türkei erklärt – es werde über Schicksalsfragen der Nation entschieden. Nur wenn es wieder eine Alleinregierung der AKP gebe, sei garantiert, dass die Türkei weiter aufsteige. Alles andere laufe auf Zerfall und Instabilität hinaus. Das hat seine Wirkung nicht verfehlt, aber zweifelsfrei einen Bumerang-Effekt, wenn nicht eintritt, was versprochen ist.

Worauf dieses Wahlergebnis keinen Einfluss hat, das ist der Verlust an Softpower, wie sie von der AKP ausging, als die Partei vor 13 Jahren zu regieren begann, um die Türkei als Modellstaat zwischen Okzident und Orient zu empfehlen. Das Muster bediente kein Gottesregime, sondern eine Staatsdoktrin, bei dem es islamischer Wertekanon, autoritäre Führung und ökonomischer Liberalismus miteinander versuchten. Die AKP hatte damit temporär Erfolg, weil sie ihren politisierten Islam sowohl mit nationaler Tradition wie sozialer Gerechtigkeit zu vereinen suchte. Ein in die Jahre gekommener Kemalismus konnte beerbt werden. Protagonisten der Arabellion in Ägypten und Syrien – besonders wenn es sich um Muslim-Brüder handelte –, aber auch der sunnitischen Opposition im Irak war Erdoğans „muslimische Demokratie“ eine Präferenz-Projekt, das sich zur Übernahme anbot.

Dass die AKP nicht hielt, was sie versprach, zeigte sich spätestens Ende 2013, als Erdoğan einen ganzen Justizapparat entsorgte, der wegen einer bis in die Spitze der AKP und der Erdoğan-Familie reichenden Korruptionsaffäre ermittelte. Dass im Handstreich quasi die Gewaltenteilung kassiert wurde, interessierte nicht weiter. Doch zeigte sich im Protest gegen einen derartigen Hang zur Willkür, dass die AKP mit einer Gegnerschaft rechnen muss, die nicht zu unterschätzen ist – ein urbanes, liberales, weltoffenes Bürger- und Unternehmertum, dazu demokratische, teils linke Aktivisten, die sich allesamt ihre Mündigkeit nicht nehmen lassen. Jener Teil der Gesellschaft wird sich um seiner selbst willen behaupten, solange Erdoğan rechtsstaatliche Standards und eine Rückkehr zu wirtschaftlicher Dynamik schuldig bleibt.

Das Widerstand dieser Gesellschaftsschichten und dieses Milieus gegen die AKP beginnt mit dessen Existenz. Natürlich untergräbt es die Möglichkeiten der AKP-Gegner– noch dazu kurz vor einer Wahl –, wenn selbsternannte Gralshüter eines europäischen Wertereservoirs wie die EU-Kommission und die deutsche Kanzlerin Erdoğan so unbeirrt als Wahlhelfer dienen, wie das in den vergangenen Wochen geschah. Die Flüchtlingskrise ließ alle Hemmungen schwinden.

Rückschlag für Syrien

Das Land braucht eine Regierung, die nicht weiter polarisiert, sondern im Bewusstsein innerer Zerrissenheit entlang weltanschaulicher, religiöser und ethnischer Demarkationslinien versöhnt. Das Gegenteil wird der Fall sein. Es sei denn, die AKP gibt einen Machtanspruch auf, der neben dem Staat einer ganzen Gesellschaft gilt. Diese Geschäftsgrundlage ihres politischen Daseins aufzugeben, wäre auf eine Emanzipation der Partei, ihrer Führung, nicht zuletzt des Premiers Davutoğlu vom autokratischen Selbstverständnis des Präsidenten Tayyip Erdoğan angewiesen. Es käme einer Revolution gleich. Wer rechnet damit? Wer glaubt daran, wenn ein solcher Wandel zugleich geostrategische Konsequenzen hätte, die sich etwa auf die türkische Syrien-Politik auswirken würden?

Der AKP-Triumph wird das Bemühen um einen diplomatischen Ausweg aus dem syrischen Desaster nicht befördern. Mutmaßlich sind zwar die Zeiten vorbei, in denen die Türkei Transitland für Dschihadisten aus Libyen, Ägypten, Pakistan und anderen Ländern war, die ungehindert nach Syrien durchreisen konnten, oder Waffentransfer und Ausbildungscamps für diese Kombattanten geduldet wurden. Doch hat sich nichts am strategischen Ziel Ankaras geändert, in Syrien mit dem Baath-Regime zugleich den säkularen Staat zu schleifen. Käme in Damaskus eine Regierung des sunnitischen Anti-Assad-Lagers an die Macht, könnte sie auf den Beistand der islamisch-sunnitischen Exekutive in Ankara zählen.

Präsident Erdoğan hat den Syrien-Krieg bisher vor allem als Chance begriffen, sich im Nahen Osten als Regionalmacht zu etablieren und mit Saudi-Arabien, Ägypten und Katar auf Augenhöhe zu verkehren. Man sollte nicht vergessen, das AKP-dominierte Parlament hat 2012 einen sogenannten Vorratsbeschluss für eine grenzüberschreitende Intervention gefasst, der den Staatschef autorisiert, militärisch zu handeln, ohne die Nationalversammlung nochmals befragen zu müssen. Hätte es am 1. November ein Wahlergebnis wie am 7. Juni gegeben und die AKP einen Koalitionär gebraucht, wäre für einen solchen Part die Republikanische Volkspartei (CHP) in Betracht gekommen. Deren Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu bestand im Wahlkampf auf einer Kurskorrektur bei Syrien – mehr Vermittlung, weniger Parteilichkeit. Davon wird jetzt keine Rede mehr sein.

Die HDP bleibt im Parlament

Inwieweit Teilergebnisse dieser Wahl manipuliert wurden und damit das Votum an sich, darüber wird gewiss in den nächsten Tagen mehr zu hören sein. Feststeht, die AKP konnte die Grenzen der Wahlkreise mit ihrer Parlamentsmehrheit willkürlich festlegen. Es wurde zudem durch lokale Administrationen schon vor dem 1. November entschieden, dass es in manchen Kurden-Dörfern im Südosten keine Wahllokale geben würde. Es sei dort zu gefährlich, demzufolge ein reguläres Votum nicht möglich, so die Begründung. Die Bürger wurden aufgefordert, in die nächste Stadt zu fahren oder in einem Nachbarort zu wählen.

Hat das nicht mindestens die Wahlbeteiligung beeinflusst? Ganz abgesehen davon, dass die HDP nach dem Ankara-Attentat ihre Wahlkampf aussetzen musste, weil der türkische Staat weder willens war noch fähig sein wollte, deren Aktivisten zu schützen. Um so mehr ist zu würdigen, dass die Partei die an sich schon maßlose Zehn-Prozent-Hürde erneut überwunden und eine parlamentarische Präsenz gesichert hat. Diese kann ein Schutz gegen ein Abdrängen in die Illegalität sein, freilich keine Garantie.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden