Pardon wird nicht gegeben

Ukraine Die neuerliche Regierungskrise hat das Zeug zur Staatskrise - es geht um nichts weniger als das Verhältnis zu Russland

In Kiew ist die Orange-Koalition zwischen dem "Block Julia Timoschenko" und dem Parteienbündnis "Unsere Ukraine" von Präsident Juschtschenko - erwartungsgemäß - zerbrochen. Es folgt erneut ein Interregnum, inzwischen die typische Regierungsform der Ukraine. Dabei ist alles möglich, von Neuwahlen bis zur Demission des Staatschefs.

Wird nach Unterschieden zwischen Viktor Juschtschenko und Michail Saakaschwili gefragt, bietet sich die Auskunft an: Der ukrainische Präsident hat noch keinen militärischen Konflikt mit Russland riskiert, obwohl ihm dafür mehr Vorwände zu Verfügung stehen als dem georgischen Staatschef. Sie reichen von den durch Moskau vehement bekämpften NATO-Ambitionen über die demütigende Abhängigkeit vom Energie-Giganten Gazprom bis zur Präsenz der russischen Schwarzmeerflotte in ukrainischen Hoheitsgewässern, besonders im Hafen Sewastopol. Natürlich weiß Juschtschenko, wenn er den großen Krach mir Russland provoziert, ist er politisch erledigt. Der Westen wird für die Ukraine ebenso wenig ins Feld ziehen wie für Georgien. Die Gewissheit darüber treibt den ukrainischen Präsidenten zu aggressiver Verzweiflung, seine Ministerpräsidentin Julia Timoschenko zu neuem Denken.

Wird nach Ähnlichkeiten zwischen Juscht­schenko und Saakaschwili geforscht, fällt die Antwort gleichfalls nicht schwer: Sie überschätzen ihr politisches Talent und ihre Möglichkeiten im Umgang mit Russland. Nicht zu unterschätzen ist daher ihr Hang, jenseits der Hemmschwelle Krieg die bedingungslose Solidarität des Westens einzuklagen und zur Bekräftigung dieses Verlangens notfalls über Leichen zu gehen, wie das Saakaschwili in Südossetien tat. Juschtschenko dürfte registriert haben, wozu das gut sein kann. Die US-Regierung spendiert Saakaschwili "für den Wiederaufbau" eine Milliarde Dollar, die der maroden Ökonomie Georgiens weiteres Siechtum erspart. Um die Dimension dieser Marshall-Geste zu ermessen, sei darauf verwiesen, dass der georgische Staatshaushalt im Jahr 2007 auf ein Finanzvolumen von umgerechnet 3,1 Milliarden Dollar kam. Von außen alimentierte Souveränität gibt es also nicht nur bei der in die Unabhängigkeit gelotsten Provinz Kosovo.

Es wäre übertrieben zu unterstellen, die NATO oder die EU ließen sich von Saakaschwili oder Juschtschenko zum Beistand nötigen, doch reicht deren Eskapismus gegenüber Russland allemal, so etwas wie eine Politik der unbedingten Verantwortung auszulösen, die als Schirmherrschaft für postsowjetisches Dissidententum auf Staatsebene funktioniert. Nur hat Georgiens Präsident für seine Westdrift um - wie man seit dem 8. August weiß - jeden Preis (noch) die Mehrheit seiner Landsleute hinter sich. Für Juschtschenko, der ein Land mit einem starken russischen Bevölkerungsanteil regiert, gilt das nicht. Jüngste Umfragen zum Georgien-Krieg und zum Streit um den von der russischen Flotte genutzten Hafen Sewastopol besagen: Nur noch ein knappes Drittel teilt Juschtschenkos Russland-Phobie, 40 Prozent wollen ungetrübte Beziehungen zu Moskau, der Rest, etwa 25 Prozent, lässt sich überraschen, wohin es gehen soll.

Von den Russen gekauft

Damit wäre man bei der vor Wochenfrist so ungestüm wie selten zuvor ausgebrochenen ukrainischen Regierungskrise. Keine Machtprobe, auch kein Machtkampf, eher ein Machtkrieg zwischen einem ausgelaugten Präsidenten und der um jähe Schwenks nie verlegenen Ministerpräsidentin. Wenn Sieger und Verlierer der Bataille feststehen, wird man genauer wissen, ob die Ukraine künftig ihren "Weg nach Europa" mehr im Konsens oder noch mehr im Konflikt mit Russland fortsetzt. Juschtschenko bevorzugt die konfrontative Gangart, um vor allem die USA zu mehr Unterstützung herauszufordern, der von der Machtreserve zusehends zur Machtgarantie seiner Präsidentschaft wird. Julia Timoschenko hingegen neigt zum Dialog mit Medwedjew und Putin, sie entdeckt in Russland plötzlich wieder den Partner, um ihrerseits Juschtschenko herauszufordern.

Der ungeliebte Kompagnon dabei heißt freilich Viktor Janukowitsch und ist Führer der pro-russischen Partei der Regionen, Wahlsieger 2006 und ein bekennender Taktierer zwischen West-Öffnung und Russland-Bindung der Ukraine. Auch künftig nicht mit Janukowitsch, sagt Timoschenko und wird wissen, dass die Halbwertzeit dieses Versprechens nicht hoch ist.

Auslöser der Kiewer Zerreißprobe war im Übrigen nicht der Georgien-Krieg. Bestenfalls wurde der zum Katalysator eines Kanonade, bei dem kein Pardon mehr gegeben wird. Bereits im Juli wartete Viktor Baloga als Chef der Präsidialkanzlei mit dem deftigen Vorwurf auf, Timoschenko habe sich "für über eine Milliarde Dollar von den Russen kaufen" lassen. Die eigene Regierungschefin als Landesverrätern auszurufen, das schien selbst für den gewohnt rauen Umgangston in Kiew ungewöhnlich. Was Juscht­schenko dazu trieb, seinen Baloga derart von der Leine zu lassen, darüber wurde viel spekuliert. Vermutlich war es Timoschenkos couragierte, aber nicht weiter popularisierte Entscheidung beim Streit über die Pipeline Odessa - Brody, die Juschtschenko zur Weißglut trieb.

Ursprünglich gebaut, um russisches Öl zum Schwarzmeerhafen Odessa und von dort auf den Weltmarkt zu leiten, wollte Juscht­schenko im Schulterschluss mit Polens Lech Kaczynski die Trasse nutzen, um Kaspi-Öl über Odessa nach Polen zu pumpen. Timoschenko hat diesen antirussischen Deal, ohne viel Aufhebens davon zu machen, und dank ihrer guten Beziehungen zum Gas-und-Öl-Business einfach unterbunden. Für Juscht­schenko der endgültige Beweis, Timoschenko fraternisiert mit Moskau und will ihn in den Augen der Amerikaner als Versager vorführen. Und das in einem Augenblick, da die schöne Gift-Story abstürzt und das sorgsam gepflegte Opfer-Image zu kosten droht.

Der vierte Mann

Zur Erinnerung, am 5. September 2004 hatte es auf Einladung von Ihor Smeschko, Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU, und seines Stellvertreters Wolodymyr Sazjuk das berühmte Abendessen mit Juscht­schenko gegeben, von dem der Gast eine Dioxin-Vergiftung mit nach Hause nahm. Die zuverlässigen Feinde Russlands erkannten seinerzeit mit sicherem Blick die lange Hand Putins, die einen hoffnungsvollen Demokraten zur Strecke bringen wollte. Seit kurzem aber tendiert Juschtschenko zu der Ansicht, sein einstiger Freund Schwanija, der ominöse vierte Mann beim Soupé, sei der Giftmischer gewesen und habe alles eingefädelt. Der Georgier Schwanija, in besseren Tagen enger Vertrauter und Taufpate eines Juschtschenko-Kindes, hatte 2004 dafür gesorgt, dass die Orange-Revolution auch dank der Millionen des russischen Milliardärs und Polit-Emigranten Boris Beresowski in Schwung blieb. Nur hatte der großzügige Sponsor nicht uneigennützig, sondern in der Erwartung gespendet, nach dem Orange-Sieg werde ihm die Orange-Regierung ein wundervolles Refugium in Kiew offerieren, in dem er sich heimischer als im fernen London fühlen und seinem Intim-Feind Putin näher sein könne.

Doch die Orange-Sieger zeigten ihrem Wohltäter die kalte Schulter. Prompt nahm der Verschmähte Rache, legte Überweisungsbelege vor und berief sich auf Schwanija als Kronzeugen. Der wird nun von Juscht­schenko zum Drahtzieher des Giftanschlags erklärt, was wiederum die hinterhältigen Russen entlastete. So geraten bewunderte Revolutionen in das Mahlwerk ihrer Umstände, gewiss zum Leidwesen der vielen Moraltouristen aus Deutschland, die einst den Orange-Helden das Geleit gaben und mit Verzückung nicht geizten.

Julia Timoschenko ficht das alles nicht ansie scheint im Moment mehr denn je von der Überzeugung beseelt, Juschtschenko kann machen, was er will - er verliert immer, erst recht bei Neuwahlen. Was liegt näher, als die Gunst der Stunde zu nutzen und selbst nach dem höchsten Amt zu greifen? Auch wenn sich Timoschenko mit ihren Haarkranz gern zur Nationalikone stilisiert - sie kommt aus einer russisch-ukrainischen Familie, hat Ukrainisch erst Mitte der neunziger Jahre gelernt und soll in ihrer Schulzeit beim Zusammenbau der Kalaschnikow stets die Schnellste gewesen sein. Eine Empfehlung, und das nicht nur in Moskau.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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