Es muss so etwas wie eine Droge sein, von der man schwer wieder loskommt und deshalb den Entzug scheut, wird allenthalben suggeriert. Deshalb könne EZB-Präsident Mario Draghi nicht davon lassen, den Leitzins für die Eurozone noch einmal zu senken, diesmal auf 0,15 Prozent.
In der Tat handelt es sich um eine Entscheidung, die auf einen ersten und vagen Blick so gar nicht zu dem Indikatoren-Set zu passen scheint, das derzeit von Analysten geltend gemacht wird, um der Währungsgemeinschaft ein positives Allgemeinbefinden zu bescheinigen. Die Konjunktur gilt trotz magerer Wachstumsraten als stabilisiert, der Zinsschub für die Schuldentitel der Euro-Krisenstaaten als gebremst.
Für Griechenland lag die Rendite fünfjähriger Staatsanleihen Ende April bei 5,0 Prozent, für Portugal bei 2,5 und für Italien bei 1,8 Prozent. Zudem werden neuerliche Bankenpleiten in Südeuropa ausgeschlossen, auch wenn die Gefahr als bei weitem nicht gebannt gilt und sogar wieder wachsen könnte. Wenn das alles so rosig ausschaut, muss dann Draghi das Steuer nicht herumreißen und eine Zinswende vollziehen?
Handlanger für Gläubiger
Zunächst ein Blick zurück. Erinnern wird uns des Tages vor knapp zwei Jahren, als der Eindruck erweckt wurde, wenn die Eurokrise schwer zu steuern ist, muss man sie wenigstens eindämmen. An jenem 26. Juli 2012 erklärte Mario Draghi: „Wir werden alles tun, um den Euro als stabile Währung zu erhalten. Und glauben Sie mir – es wird ausreichen.“ Was die EZB danach aufzubieten hatte, sollte seine Wirkung nicht verfehlen, war aber schon damals nicht nur Geld-, sondern vorzugsweise Anti-Krisen- oder Wirtschafts-Politik und eine Überdehnung des Mandats, das einem institutionalisierten Währungshüter zuerkannt ist. Man setzte auf billiges Geld, das dank Niedrigzinsen in Sturzbächen auf die Kapitalmärkte gespülte wurde, tat etwas für unbegrenzte Liquiditätsversorgung, lockerte die Kreditsicherung, stellte den Aufkauf von Staatsanleihen der hoch verschuldeten Euroländer in Aussicht. Mehr denn je übernahm die EZB die Rolle eines "Lender of last Resort".
Allerdings musste die Frage erlaubt sein, ist Geldpolitik dazu da, Handlanger von Großschuldnern, Gläubigern bzw. Finanzinvestoren zu sein, die sich trotz Finanzkrise und latenter Insolvenzgefahren ihre Renditen nicht nehmen lassen wollen?
Zweimal bluten
Die Konsequenzen dieser ganz klar auf eine bestimmte Klientel ausgerichteten EZB-Politik lassen sich augenblicklich vorzüglich besichtigen. Die im Gefolge ultraniedriger Zinsen erneut – wie vor dem Crash 2008/09– überschwappende Liquidität marodiert auf der Suche nach lukrativen Anlagemöglichkeiten durch die Finanzwelt. Es können neue Asset-Preis-Blasen entstehen, denn die Aktienkurse stehen in keinem Verhältnis mehr zum Zustand der Realwirtschaft, nimmt man allein den gestrigen Sprung des deutschen Leitindex Dax über die 10.000-Marke (wenn es dann auch wieder abwärts ging). In Großbritannien gilt der Immobilienmarkt durch einen Preisschub bereits als total aufgeheizt. In Spanien ist es kaum anders. Und in deutschen Großstädten?
Alle wissen: Nur akute Kreditausfälle und Geldentwertung lassen diesen Liquiditätsüberschuss wieder einhegen, wenn es ernst wird. Dass die momentane Tendenz zur Deflation dann in eine Inflation übergeht, ist nicht auszuschließen.
Von allen makroökonomischen Folgen einmal abgesehen, wäre das für private Sparer mit erheblichen Verlusten verbunden. Sie würden quasi zweimal bluten: Zunächst einmal, weil durch das Zinsdumping bereits Geldvermögen in Größenordnungen verloren ging – immerhin nennt der deutsche Sparkassen- und Giroverband eine Größenordnung von mindestens 15 Milliarden Euro, um deutlich zu machen, welcher Aderlass stattgefunden hat, seit die EZB mit ihrer Zinsvorgabe die Nullboje ansteuert –, und dann noch einmal durch eine Geldentwertung. Die Altersvorsorge – besonders deren gängiges Muster Lebensversicherung – ist dadurch nicht nur beeinträchtigt, sondern in Frage gestellt. Ein fatale Entwicklung, ist man sich dessen bewusst, dass mit einem fallenden Rentenniveau in den kommenden Jahrzehnten diese oder andere Absicherungen immer unverzichtbarer werden.
Negative Inflationsraten
Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln plädiert nun mit Nachdruck für eine „Zinswende“, zur der sich die EZB durchringen und bis Mitte 2015 Vollzug melden solle, um eine allzu jähe Kurswechsel zu vermeiden. Es wird vorgeschlagen, den Leitzins in Zwei-Monats-Schritten um den Wert von 0.02 Prozent anzuheben, um Risiken zu minimieren.
Damit wird so getan, als sei es allein Sache der Leitbank, sich endlich auf Umkehr zu polen. Es wird übersehen oder ausgeblendet, dass Inflationsraten von minus 2,2 Prozent wie in Griechenland oder 0,4 bis 0,5 Prozent in Portugal, Spanien und Großbritannien (Deutschland 0,9) der herrschenden Konjunktur alles andere als ein guter Leumund sind. Das Gegenteil ist der Fall – diese Werte spiegeln die Härten der Austeritätspolitik, überstürzte Strukturreformen, fehlende Kaufkraft, hohe Arbeitslosigkeit und das Verteufeln von Konjunkturprogrammen durch maßgebende EU-Regierungen wie die in Berlin.
Folglich gibt es nur eine vor sich hin kriechende Konjunktur und Unternehmen, die sich nicht übermäßig oder gar nicht verschulden wollen, weil sie um den Absatz ihrer Produkte fürchten. Und es gibt Banken, die diesen Unternehmen keine Kredite geben, weil sie um deren Rückzahlung fürchten oder dabei zu wenig verdienen, Stichwort: Rendite. Das bedeutet, in Banken und Sparkassen lagerndes gespartes Geld wird kaum gebraucht und wirft vor allem deshalb keine Zinsen ab. Im Prinzip wären die auch ohne EZB im Keller. Vorsicht also bei Schuldzuweisungen.
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