Das große Fressen

Kalter Krieg Russland verhält sich in der Ukraine-Krim-Krise so, wie es vom Westen jahrzehntelang behandelt wurde – als gegnerische Großmacht
Ausgabe 11/2014
1990 bekommt Kanzler Kohl beim Gipfeltreffen mit Michail Gorbatschow außer der deutschen Einheit auch Blumen geschenkt
1990 bekommt Kanzler Kohl beim Gipfeltreffen mit Michail Gorbatschow außer der deutschen Einheit auch Blumen geschenkt

Foto: Picture Alliance / DPA

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hatte im ARD-Brennpunkt vom 4. März ein Einsehen mit der Wahrheit und ließ sie anklingen. Nach 1990 sei bei der Ostpolitik des Westens der Appetit beim Essen gekommen und groß gewesen. Worauf Asselborn anspielte, das war der Vorwärtsdrang, mit dem sich westliche Bündnissysteme – die NATO nicht anders als die EU – Russlands Grenzen im Norden, Westen und Südwesten genähert hatten. Polen, Ungarn, Tschechien, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien, die Slowakei – an Staaten wurde sich einverleibt, was zu haben war, einstige Verbündete Moskaus ebenso wie ehemalige Sowjetrepubliken. Damit war kein Schlusspunkt des Kalten Kriegs gesetzt, wie allenthalben suggeriert wurde. Vielmehr erfüllte sich der Westen mit der Ostausdehnung einen Traum aus der Zeit desselben. Ließ sich Kalter Krieg auf diese Weise beenden?

Man hatte unwillkürlich den Herrn Jakob Schmidt aus der Mahagonny-Oper von Bertolt Brecht und Kurt Weill vor Augen. Dieser verzehrt ein Kalb nach dem anderen und kann nicht mehr aufhören. Jetzt habe ich gegessen zwei Kälber, stöhnt Schmidt wollüstig, und jetzt esse ich noch ein Kalb. Wer ihm zusieht, fragt halb belustigt, halb besorgt, ob es für ihn ein Glück sei, so viel zu essen. Leider kann Schmidt nicht antworten. Er muss ja weiteressen.

Mit der Ukraine kommt nun ein ganz großer geostrategischer Happen auf den Tisch. Stehen dort irgendwann NATO-Truppen oder gar -Raketen, dann hätte das weitreichende Folgen. In Moskau befürchtet man die Degradierung zum Vasallenstaat des Westens. Übrig bliebe eine limitierte Regionalmacht, die sich ihrer Umgebung anpassen und womöglich damit abfinden müsste, dass der Zugang vom Schwarzen ins Mittelmeer versperrt bleibt. Die Schwarzmeerflotte, die auf der Krim stationiert ist, könnte dann getrost verschrottet werden. Alles Hirngespinste? Erinnert sich noch jemand daran, wie die USA einst reagierten, als 1962 plötzlich sowjetische Raketen auf Kuba auftauchten und sich eine Supermacht bedroht fühlte?

In Russland hat die Sowjetunion bekanntlich nicht überlebt. In der Weltsicht des Westens schon. Eigentlich dürfte es niemanden überraschen, wenn sich Russland dieser Tage so verhält, wie es seit gut zwei Jahrzehnten behandelt wird: Als Gegner, den Feind zu nennen sich aus taktischen Gründen – nicht aus Überzeugung – verbietet. Indem Russlands Präsident den Konflikt um die Krim anheizt, begräbt er quasi die Hoffnung, dass es je anders werden könnte. Wladimir Putin hat mit der faktischen militärischen Einnahme der Krim zweifellos Völkerrecht gebrochen, aber eben auch eine geostrategische Herausforderung angenommen, aus der es kein Entrinnen gab. Es sei denn durch Kapitulation. Der Westen sollte Russland keinesfalls noch weiter einkreisen. Aus Moskauer Sicht war eine „rote Linie“ erreicht.

Eine Rückblende scheint angebracht. Als im Juli 1990 Kanzler Helmut Kohl den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow zum „Strickjacken-Gipfel“ im Kaukasus traf, um sich den Segen Moskaus für die deutsche Einheit zu holen, gab es ein Junktim: Die sowjetische Führung lässt die DDR ziehen, sofern NATO-Militär deren Gebiet meidet. Vermutlich hat niemand in Moskau ernsthaft geglaubt, das vereinte Deutschland werde neutral sein; doch NATO-Bindung sollte nicht NATO-Vormarsch heißen. Was seinerzeit die Allianz kaum anders sah. Bei einer Rede in Brüssel erklärte der damalige NATO-Generalsekretär Manfred Wörner am 17. Mai 1990: „Die Tatsache selbst, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen jenseits der Grenzen des Territoriums der Bundesrepublik zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“

Diese Garantien waren bald Schnee von gestern. Andere Varianten der Bindung von Ost- an Westeuropa als Vollmitgliedschaften in NATO und EU kamen nie ernsthaft in Betracht. Stattdessen entstand eine Militärallianz, die sich gegen Russland richtete und fast einen ganzen Kontinent umfasste. Wohl nicht zufällig enthielt sogar der Assoziierungsvertrag EU-Ukraine, den Ex-Präsident Wiktor Janukowytsch im November nicht unterschreiben wollte, eine Klausel zur Einbindung des Landes in die Militärstrukturen der EU.

Es erliegt daher einem Fehlschluss, wer die Ukraine-Krim-Krise als Rückfall in den Kalten Krieg deutet. Der musste nach der Epochenwende von 1990 zwar ohne die gewohnten Blöcke auskommen, fand sich aber zusehends durch einen System- und Kulturkampf mit Russland ersetzt. Wenn der inzwischen immer unversöhnlicher ausgetragen wird, hat dies viel damit zu tun, dass Putin Anfang 2000 das marode Patriarchat eines Boris Jelzin aus den Angeln hob, als neuer Staatschef das Land stabilisierte und so geostrategische Interessen einer Großmacht nicht nur reklamieren, sondern verfolgen konnte. Seit Ausbruch der ukrainischen Staatskrise lässt sich erfahren, wie unerschrocken und entschieden dies geschehen kann.

Auf Augenhöhe

Man ist versucht, von Revanche zu sprechen, mit der Jahrzehnte der politischen Demütigungen quittiert werden. Hält Putin dem Westen einen Spiegel vor? Seht her, wir können wie ihr einem imperialen Impuls nachgeben und Machtpolitik betreiben – durch militärische Stärke, in konfrontativer Absicht und mit viel patriotischer Propaganda. Tatsächlich geht es um ein Kräftemessen auf Augenhöhe, weil der Westen bei allem, was er unternimmt – seien es ökonomische oder militärische Sanktionen – auf seine eigene Verwundbarkeit stößt. Und die ist beachtlich. Größer als die Russlands. Selbst bei der Auslegung des Völkerrechts. Immerhin gibt die Moskauer Führung zu verstehen, wenn es der NATO 1999 einen Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (mit mehr als 500 Toten) wert war, den Ruf der Kosovo-Albaner nach einer Abspaltung von Serbien zu erhören, warum sollte dann Russland den Ruf der Krim-Russen nach einem Ausstieg aus der Ukraine überhören? Weshalb sollte man so tun, als gäbe es in Kiew keine nationalistische, russenfeindliche Regierung, in der auch Rechtsextreme einflussreiche Positionen besetzen? Und hat der Westen beim Kosovo-Konflikt etwa nicht das Recht auf nationale Selbstbestimmung über Serbiens Recht auf territoriale Integrität gestellt? Schließlich wurde diese Priorität durch den Friedensplan des Kosovo-Emissär Martti Ahtisaari von der UNO gebilligt, von der EU und der NATO sowieso.

Es gibt keinen Kompromiss

Für Russland scheint die Devise obsolet: Lasst uns verhindern, dass die Ukraine an den Westen fällt. Stattdessen gilt nun offenbar: Wir behandeln sie wie ein Abruchhaus und sorgen dafür, dass sie für den Westen an Wert verliert. Insofern ist der Kampf um die Ukraine vor allem ein Kampf um Russland. Da sind Kompromisse kaum denkbar. Worin sollten sie bestehen? In einem Verzicht auf die Strategie des „near abroad“ (Nahen Auslands), die sich zur Verantwortung für russische Bürger in der Nachbarschaft bekennt? In einer Zusicherung aus Washington oder dem NATO-Hauptquartier in Brüssel, dass eine Mitgliedschaft in der Allianz für Kiew von der politischen Agenda getilgt bleibt? Wer glaubt in Moskau oder Simferopol daran? Da erscheint es Putin doch sinnvoller, Tatsachen zu schaffen, sodass die Ukraine laut internem NATO-Reglement gar nicht aufgenommen werden kann, weil sie einen offenen Regionalkonflikt auf der Krim mit sich herumschleppt.

Wie besonders die USA auf all das reagieren, grenzt an Selbstparodie. Außenminister John Kerry hat die Stirn, von einem „unfassbaren Akt der Aggression“ zu reden. Man dürfe im 21. Jahrhundert nicht einfach „unter einem erfundenen Vorwand“ in ein Land einfallen, sagt der oberste Diplomat des Staates, der unter herbeigelogenen Vorwänden in einen Krieg gegen den Irak zog und Hundertausende von Opfern zu verantworten hat. Noch immer steht die US-Armee als Besatzer in Afghanistan. Die Obama-Regierung war in den blutigen Regime Change in Libyen verwickelt, das im Chaos versinkt. Und wie „unfassbar“ ist die Ermordung von Zivilisten durch US-Drohnen?

Bis 1990 galt als Axiom – bei aller Konkurrenz der Systeme darf es keine thermonukleare Konfrontation geben. Die Atomarsenale der Supermächte dienten als Machtprojektion, erfüllten aber gleichsam den Zweck, durch gegenseitige Abschreckung ein Inferno zu verhindern. Die Frage wird sein, ob für den sich abzeichnenden neuen West-Ost-Gegensatz ein ähnliches Prinzip gelten soll. Es müsste nicht vertraglich fixiert, sondern nur allseits beachtet sein: Kein Krieg um Einflusssphären – es kann nur Verlierer geben!

Schließlich hat auch Herr Jakob Schmidt den Verzehr eines dritten Kalbs nicht überlebt. Er starb in „konsequenter Glückseligkeit“, glaubten die Leute in Mahagonny.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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