Das ist die ganze EU nicht wert, dass für Labour nun verlorengeht, was die Partei seit mehr als dreieinhalb Jahren unter Jeremy Corbyn an programmatischer Erneuerung erlebt hat. Doch führt nichts an der Erkenntnis vorbei: Die Wahlniederlage erschüttert die Autorität des Parteivorsitzenden mehr, als für Labour gut sein kann. Die Partei ist nicht völlig abgestürzt, erreichte immerhin fast 33 Prozent (während die Konservativen im Vergleich zum Votum 2017 nur ein Prozent zulegten), sie hat aber in einem Maße an Mandaten im Unterhaus verloren, dass Boris Johnson nicht mehr wirksam Paroli geboten werden kann. Vor allem auf Corbyn als Oppositionsführer trifft das zu. Er ist in der Konfrontation mit den Konservativen, mit Johnson persönlich, ein gedemütigter Gegner – das wird zu spüren sein. Seine Demission scheint nur eine Frage der Zeit, zumal sich im eigenen Lager die Stimmen häufen, er möge gehen.
Angesichts der Situation nach der Unterhauswahl vom Mai 2015, als Labour mit knapp 31 Prozent unter den Erwartungen blieb, zog der damalige Parteichef Ed Miliband innerhalb einer Woche die Konsequenzen und trat ab.
Besseres verdient
Dabei konnte Labour in den vergangenen Wochen vorrangig über die sozialen Medien durch neue Parteimitglieder und Tausende von Sympathisanten Energien mobilisieren, wie sie den Tories nicht zur Verfügung standen. Die Partei führte einen Wahlkampf, der Besseres verdient hätte, als vor Brexit-Hintergrund stattzufinden. Nur konnte man sich dem mitnichten entziehen. Es hätte diese Unterhauswahl ohne den stets von Neuem stornierten EU-Ausstieg und die Brexit-Brachialität eines Boris Johnson nie gegeben.
Offenkundig hat es für Labour nicht funktioniert, Wählerinnen und Wählern einen alternativen Gesellschaftsentwurf anzubieten, die in ihrer Mehrheit nur eines wollten: Das seit mehr als drei Jahren andauernde Brexit-Drama endlich zu beenden. Hätte sich Corbyn deshalb klar für oder klar gegen den Brexit aussprechen sollen, statt neue Verhandlungen mit der EU, einen neuen Vertag und ein neues Referendum zu verlangen?
Halten wir ihm zugute, dass er seine Partei eben nicht unter Wert verkaufen und aller Polarisierung zum Trotz auf einen Wahlkampf der Inhalte setzen wollte. Die EU-Debatte galt als Chance, einen Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse voranzutreiben und dabei von einem EU-Ausstieg zu profitieren, der anders verlaufen sollte als nach dem jetzigen Abkommen vorgezeichnet. Oder einer solchen Zäsur sogar ganz zu entgehen. Das Labour-Manifest vom 21. November zielte auf eine „grüne industrielle Revolution“ und bekannte sich zu massiven öffentlichen Investitionen, um eine dekarbonisierte Ökonomie voranzubringen, Hunderttausende von grünen Arbeitsplätzen zu schaffen und einen Umbruch bei den Eigentumsverhältnissen auszulösen. Warum nicht maßgebliche Wirtschaftsressourcen in genossenschaftliche und öffentliche Hand geben, fragte Corbyn. Theoretiker wie Martin O'Neill sprachen von einer „institutionellen Wende“, die anstehen würde, sollte aus dem Parteiprogramm Regierungspolitik werden.
Tragödie nicht nur für Labour
Im zweiten und vorletzten Fernsehduell mit Johnson erklärte Corbyn – einem auf Hohn und Spott versessenen Gegner in die Parade fahrend – er gedenke mit seiner Partei niemanden zurückzulassen. Das sei das „goldene Prinzip“, an dem Labour nicht rütteln werde. Deshalb ertrage er die ständigen Diffamierungen, aber die verordnete Ungleichheit, ein unterfinanziertes Bildungssystem, ein marodes Nationales Gesundheitssystem (NHS) dürfe man nicht länger hinnehmen und werde das ändern. Leider wird Labour bis auf weiteres nicht die Gelegenheit dazu haben. Und Jeremy Corbyn kann die Partei nicht mehr mit dem gewohnten Rückhalt darin ermutigen, sie zu suchen und zu nutzen. Dies eine Tragödie für Labour und für eine um ihr politisches Überleben ringende westeuropäische Sozialdemokratie zu nennen, wird manchem nicht gefallen. Aber es drängt sich auf, wenn nun womöglich die Rückkehr oder besser der Rückfall in die „New Labour“-Indifferenz eines Tony Blair die Konsequenz der Wahlniederlage sein wird.
Johnson, die Schotten und die Nordiren
Boris Johnson kann vollziehen, was er versprochen hat, und dem Land dafür einen hohen Preis abverlangen. Nach dem 31. Januar – sollte das der Tag des ultimativen Abschieds sein – wird er erst einmal mit leeren Händen dastehen. Verhandlungen über neue Handelsverträge mit der EU, mit den USA, mit Japan und China können sich Jahre hinziehen. Die Verunsicherung einer Handels- und Weltfinanz-Nation wird zu spüren sein. Nicht auszuschließen, dass in einer Phase des Übergangs Schottland dem Vereinigten Königreich entgleitet. Die Scottish National Party (SNP) fühlt sich mit ihren Zugewinnen darin bestärkt, ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum anzustreben. Ein Vorspiel, um aus Großbritannien aus- und in die EU wieder einzusteigen?
Für Nordirland stehen das Karfreitagsabkommen und der seit 1998 immer wieder bedrohte, zuverlässig fragile Friedensprozess zur Disposition. Der durch Premier Johnson Mitte Oktober in Brüssel vereinbarte Deal zur Nordirlandfrage treibt einen Keil zwischen die Konservativen und die Ulster-Radikalen der Democratic Unionist Party (DUP). Wenn nun plötzlich doch eine Zollgrenze in der Irischen See gezogen wird, trennt das Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs. Was die DUP in der Annahme kategorisch verwirft, dies werde die katholisch-republikanischen, auf eine irische Wiedervereinigung bedachten Kräfte stärken. Davon ungerührt sprach Johnson in Brüssel von einem „phantastischen Vertrag“.
In welchem Zustand wird Großbritannien sein, wenn es die EU unter konservativer Führung verlassen hat? Die Frage spielte bei dieser Unterhauswahl nur bei Labour und den Liberaldemokraten eine Rolle, über die Antwort freilich wurde mit diesem Votum sehr wohl entschieden.
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