Das neue Modell: Failed State

Nahost Es erinnert an eine Epidemie. Bürgerkriege, ethnische und religiöse Konflikte erfassen eine ganze Region. Staaten zerfallen, Grenzen haben nur noch statistischen Wert
Ausgabe 27/2014
Ein Tuareg hält die Flagge der MNLA in die Luft, der politischen und militärischen Organisation im malischen Azawad
Ein Tuareg hält die Flagge der MNLA in die Luft, der politischen und militärischen Organisation im malischen Azawad

Foto: Kenzo Tribuoillard/ AFP/ Getty Images

Mali – Tuareg-Heimstatt Azawad

Der einheitliche Staat ist eine Fiktion, seit Anfang April 2012 im Norden des Landes die Tuareg-Bewegung MNLA den Azawad ausgerufen hat – ihren Separatstaat, der sich von Mali trennt. Diese Entität umfasst die Regionen Timbuktu, Gao sowie Kidal und ist 820.000 Quadratkilometer groß, auf denen 1,3 Millionen Menschen leben. Elixier dieser Selbstermächtigung war im September 2011 in Libyen der Sturz von Muammar al-Gaddafi, der viele Tuareg an sich gebunden hatte. Im Jahr 2013 konnte die französische Militärintervention „Operation Serval“ die Azawad-Unabhängigkeit nicht wirklich beenden. Im Gegenteil, inzwischen gibt es inoffizielle Verhandlungen zwischen Paris und der MNLA, um die Ausbeutung von Rohstoffen des Azawad zu sichern.

Libyen – Staat im Staat

Es ist symptomatisch – bei der Parlamentswahl vor Wochenfrist haben nur etwa 630.000 Libyer ihre Stimme abgegeben. Wahlberechtigt waren 3,4 Millionen. Längst ist es für einen Großteil der Bevölkerung irrelevant, ob in Tripolis eine Legislative tagt, und wer regiert. Seit dem Sturz von Oberst Muammar al-Gaddafi im September 2011 ist das Land nur noch ein Schatten seiner selbst und ohne Zentralgewalt.

Militäreinheiten diverser Clans im Osten wie im Westen – teils islamistisch gefärbt – verweigern jede Entwaffnung, gebärden sich als Staat im Staat, okkupieren Teile der Erdölwirtschaft und verdienen an den Exporten. Die ursprüngliche Absicht des Nationalen Übergangsrates, die Rebellen in reguläre libysche Streitkräfte zu überführen, ist gescheitert. Die Grenzen zu Algerien, Niger und dem Tschad sind Transitschleusen für Dschihadisten, aber keine verbindlichen Demarkationslinien mehr. Fast herrschen „somalische Verhältnisse“.

Libanon – Staat auf Abruf

Seit Ablauf der Amtszeit von Michel Suleiman am 25. Mai sind im Parlament mehrere Wahlgänge gescheitert, um einen neuen Präsidenten des Libanon zu finden. Wie lange das Land ohne Führung bleibt, ist völlig offen. Derzeit halten sich die pro-westliche „Koalition 14. März“ und das anti-westliche „Bündnis 8. März“ gegenseitig in Schach – geführt vom sunnitischen Unternehmer Saad Hariri auf der einen und der schiitischen Hisbollah auf der anderen Seite. Noch heißt Patt nicht Unregierbarkeit, mindestens aber Teilblockade eines Staates, für den seit dem Abkommen von Taif (1989) eine fragile konfessionelle Balance gilt. Staatschef muss immer ein maronitischer Christ, Premier ein Sunnit, Parlamentspräsident ein Schiit und Armeechef wieder ein Christ sein. Dieses Agreement erlaubte es, den 1975 ausgebrochenen Bürgerkrieg im Jahr 1990 zu beenden. Es wird hinfällig sein, sollte die Schlacht um Syrien den Libanon irgendwann noch mehr erfassen, als das schon geschieht.

Palästina – konstitutionelle Utopie

In der Westbank und im Gazastreifen ging ein Staat verloren, bevor es ihn überhaupt gab. Die im Konflikt zwischen Israelis und in Palästinensern angestrebte Zwei-Staaten-Lösung ist politisch irreal, weil praktisch nicht durchsetzbar. Im Westjordanland und Ostjerusalem haben sich mehr als 500.000 Israelis niedergelassen – es ist derzeit keine israelische Regierung denkbar, die sie zur Rückkehr zwingen würde. Dass Israel die Westbank annektiert wie Ende 1981 die Golanhöhen ist heute wahrscheinlicher als die Gründung eines existenzfähigen palästinensischen Staates. Das heißt, Israel wird in absehbarer Zeit nicht zu den Grenzen von 1967 zurückkehren und als Besatzungsmacht ein expandierender Staat sein, während der palästinensische Staat gescheitert ist, bevor er ausgerufen werden konnte.

Syrien – Rumpf- statt Zentralstaat

Drei Jahre Bürgerkrieg haben den Zentralstaat erodieren lassen. Die Regierung Assad beherrscht das Territorium entlang der „strategischen Achse“ Damaskus-Homs-Hama-Aleppo. Im Norden muss sie die Macht vielfach mit den kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG teilen, die einige Städte kontrollieren und nach Autonomie, teilweise dem eigenen Staat streben. In der östlichen Syrischen Wüste behaupten sich die Freie Syrische Armee und andere Rebellengruppen. An der türkisch-syrischen Grenze hat sich eine islamistische Rebellenkoalition gegen die Organisation Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIL) durchgesetzt und hält dort einen Gebietsstreifen. Die Golanhöhen im Südwesten sind seit 1967 von Israel besetzt. Die Rückkehr zu Syriens territorialer Integrität käme einem Wunder gleich.

Irak – Dreiteilung denkbar

Als gescheiterter Staat muss der Irak nicht zwangsläufig ein zerfallender Staat sein, doch vieles spricht im Moment dafür. Möglich erscheint eine Dreiteilung, die unter anderen davon abhängt, ob im Norden die kurdische Autonomie wie bisher erhalten bleibt oder in den eigenen Staat mündet. Eine schiitisch dominierte Entität wäre im Süden zwischen Bagdad und der Hafenstadt Basra denkbar – eine sunnitische im Nordwesten an der Grenze zu Syrien. Auch wenn der derzeitige Vormarsch der ISIL-Verbände den Eindruck erweckt, muss es sich bei einer solchen Einheit der Sunniten nicht notgedrungen um ein Kalifat (Gottesstaat) handeln. Die lokale, oft in Stämmen organisierte Bevölkerung dürfte sich kaum einem dschihadistischen Patriarchat unterwerfen.

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