Ende September 1983, im Jahr vier der sandinistischen Revolution, fliegen wir nach Nicaragua, um für das Fernsehen einen Dokumentarfilm über eine Gemeinde der Iglesia Popular zu drehen. Diese vitale Kirche von unten erträgt es seit Monaten, dass ein erzürnter Erzbischof Obando y Bravo im Namen des Hohen Klerus seinen Bannstrahl gegen die Abtrünnigen schleudert. Befreiungstheologen werden als Gläubige ohne Gottesfurcht, Volkskirchen als Hort unchristlicher Versuchung geschmäht. Deren Priester sind in der Tat keine frommen Schafe, sondern Revolutionäre. Gleich mehrere Geistliche sitzen seit dem Sturz des Diktators Somoza im Juli 1979 in der Regierung: Pater Miguel D‘Escoto als Außenminister, der Dichter Ernesto Cardenal für ein Kulturministerium, das es bis dahin nie gab. Dessen Bruder Fernando ist 1980 Nationaler Koordinator der Alphabetisierungskampagne und geht mit Tausenden in die Berge um Jalapa und Leon, auf dass die Bauern künftig nicht nur der Erde die Initialen ihrer Arbeit schenken.
Als wir am Airport Managua auf das Filmgepäck warten, steht plötzlich ein Kamerateam von Sistema Sandinista (SSTV) vor uns. Weshalb wir kämen. Was wir tun wollten, damit in der DDR der Beistand für die Sandinistische Revolution nicht abflaue. Gerade jetzt, da alles, was man sich vorgenommen habe, von den Angriffen der Contras im Norden bedroht sei wie nie zuvor. Nun hätten die Amerikaner auch noch sämtliche Häfen an der Pazifikküste vermint. Wir reden über unser Vorhaben, Gemeinden der Volkskirche zu porträtieren. Ansonsten sind die Sandinisten in der DDR so populär wie einst der chilenische Sozialist Salvador Allende. Am nächsten Tag steht das Interview auch in der Zeitung La Barricada, dem Blatt der Frente Sandinista (FSLN), das uns „Kriegsberichterstatter“ nennt. Steht Nicaragua im Krieg? Wir fragen Carla, unsere Betreuerin vom Nica-Fernsehen – sie winkt ab. Diese Übertreibung ergäbe sich aus der Kampagne für den Patriotischen Militärdienst (Servicio Militar Patriotico/SMP), den man einführen wolle, weil befürchtet werde, die Sandinistischen Streitkräfte könnten dem Druck der Contra-Verbände irgendwann nicht mehr standhalten. Die wollten im Norden einsickern, eine Region besetzen und eine Gegenregierung ausrufen. „Wir bluten aus, aber jetzt eine Wehrpflicht verordnen – ich weiß nicht.“
Authentische Volksbewegung
Bis dahin haben wir die Erben Sandinos – des 1934 ermordeten nicaraguanischen Volkshelden – als authentische Volksbewegung erlebt, erfrischend unkonventionell, mit einer kollektiven Führung und ohne Caudillo. Die neun Comandantes der Frente folgen keinem sowjetischen Modell, weil sie Nicaragua verändern wollen. Die Kubaner helfen ihnen, aber bevormunden sie nicht. Für die US-Regierung unter Ronald Reagan reicht das schon, um die Domino-Theorie zu bemühen. Ein zweites Kuba diesmal nicht in Chile, sondern auf der Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika werde dazu führen, aus El Salvador ein zweites Nicaragua zu machen und aus Guatemala ein zweites El Salvador.
US-Präsident Nixon nannte Allende „einen Hurensohn“ – Ronald Reagan hält es mit Daniel Ortega kaum anders.
Tage später können wir in einer Gemeinde der Iglesia Popular drehen. Aus dem Barrio Rielo im Süden Managuas versammeln sich die Gläubigen zur Messe in ihrer Kirche Santa Maria, weil es einen besonderen Grund gibt. Pater Molina nennt drei Namen. Die jungen Männer waren vor wenigen Wochen noch unter ihnen, gingen dann als Freiwillige in den Norden, um ihr Land zu schützen. Die Gemeinde weiß, dass sie nie zurückkehren werden, und trauert um Söhne und Brüder. Pater Molina spricht über ihr Opfer und die Waffen der Sandinisten. „Wenn ich die Wurfschleuder Davids segne, ist es gerecht, wenn ich die Axt des Goliath segnen wollte, wäre es gegen unseren Glauben.“ Nicht alle Priester aus der Volkskirche verbreiten diese Botschaft, die meisten schon. Gibt es Rückhalt im niederen Klerus für die Absicht der Regierung Ortega, einen Wehrdienst einzuführen, der im Land keine Tradition hat? Somozas Nationalgarde war eine Berufsarmee – das Sandinistische Volksheer besteht bis zu diesem Moment im wesentlichen aus der Guerilla, die 1979 den Diktator ins Exil trieb. Verliert eine Revolution deshalb ihre Unschuld, weil sie versucht, sich zu verteidigen? Oder wird sie schuldig, wenn sie darauf verzichtet? Der ewige Streit zwischen der Tugend des Schreckens und dem Schrecken der Tugend?
Drei Jungen aus dem Barrio Rielo
Was sich im Herbst 1983 mit der Debatte über den Militärdienst nur erahnen lässt, wird in den Jahren darauf zur Gewissheit. Tausende junge Nicaraguaner verlassen – soweit es die Eltern finanzieren können – ihr Land, um sich dieser Pflicht zu entziehen. Unternehmer, Akademiker, Intellektuelle – das überschaubare bürgerliche Milieu Nicaraguas gehörte einst zur Opposition gegen Somoza, doch je mehr die FSLN nach dessen Sturz zum radikalen sozialen Wandel ausholte, desto unaufhaltsamer wurden aus Anti-Somozisten vehemente Anti-Sandinisten.
Wir wollen mit der Kamera soweit wie möglich in die Region hinein fahren, in der die drei Jungen aus dem Barrio Rielo gestorben sind. Es geht mit dem Jeep nach Norden, vorbei an Maisfeldern und Baumwollschlägen zu Füßen vulkanischer Berge. Oft zittert die Erde hier, bäumt sich auf und schickt ihren schweren Asche-Regen über das Land. Dann geht die Sprache des Wassers ebenso verloren wie die Hoffnung auf Ernte. Nichts, rein gar nichts lässt sich tun dagegen. Erde war der Mensch, schrieb Pablo Neruda im Großen Gesang.
Für unterwegs hat Carla von Sistema Sandinista ein Interview im Zuchthaus El Modelo arrangiert, wir sollen dort einen Mann treffen, bei dem die Fäden für ein vereiteltes Attentat auf die Erdölraffinerie von Managua am 9. Januar 1982 zusammenliefen. Der Schlag sollte nicht nur diese Anlage treffen, sondern ein ganzes Land lähmen – es gibt in Nicaragua nur diese Raffinerie. Als wir ihm im Besucherraum des Zuchthauses gegenübersitzen, beteuert der 32-jährige William Baltodano sofort, er sei kein Somozist, viel mehr ein Verführter und Missbrauchter. Man möchte ihm gern abnehmen, dass er in der Einsamkeit seiner Zelle, den Contras abgeschworen hat. Baltodano kommt mit seinen feinen Gesichtszügen als gepflegte Erscheinung daher. Man nimmt ihm den Strafgefangenen weniger ab, den Vorzugshäftlinge schon eher. Sieht so der skrupellose Politgangster aus, das käufliche Subjekt? Nach dem Abgang Somozas habe er sich zunächst den Sandinisten angeschlossen und als Ingenieur Einblick in die Energiewirtschaft Nicaraguas erhalten, erzählt er. Das empfahl ihn für Kontakte mit der Organisation FARN-UDN, in der sich alte und neue Gegner der Sandinisten sammeln, um den Comandantes der FSLN zu bedeuten, dass sie noch längst nicht am Ziel sind.
Wie das Weizenkorn
Baltodano wurde vom Kommando 9. Januar rekrutiert, das den Sprengstoffanschlag ausführen wollte, aber aufflog, weil es einen Informanten gab. War Baltodano der „Verräter“, dem nun im Zuchthaus eine gewisse Dankbarkeit hilft, über die Zeit zu kommen? Auf jeden Fall taugt das versuchte Attentat zum Argument für eine wehrhafte Revolution und damit das Gesetz zum Militärdienst. Aber was die Sandinisten in dieser Hinsicht auch immer entscheiden – er bleibt zwiespältig. Sie werden untergehen, falls der schleichenden Intervention kein Einhalt geboten wird. Sie werden an Zuspruch verlieren, wenn sie die neue Freiheit durch neuen Zwang zu behaupten suchen und junge Männer zur Armee holen. Es ist wie mit dem Weizenkorn, das überlebt, weil es nicht in die Erde fällt. Oder stirbt, weil es von der Erde aufgenommen wird und für die kommende Frucht sorgt.
Die sandinistische Wende für Nicaragua hat vorerst ausgesorgt, als die FSLN im Februar 1990 die Wahl gegen die bürgerliche Opposition um Präsidentschaftskandidatin Violeta de Chamorro verliert. Für die Niederlage gibt es etliche Gründe – der Militärdienst, analysieren die Comandantes, sei einer der entscheidenden gewesen.
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