Es ist eine skurrile, fast absurde Szene. Yassir Arafat und der israelische Premier Ehud Barak stehen am 11. Juli 2000 vor einem Bungalow in Camp David, der Sommerresidenz der amerikanischen Präsidenten, und komplimentieren sich gegenseitig zur Tür hinein. Der Palästinenser möchte dem Israeli unbedingt den Vortritt lassen. Gleich wird der eine den anderen mit sanfter Gewalt über die Schwelle bugsieren. Wer wen? Das scheint hier die Frage. Die Szene wird zur Metapher für einen Nahost-Gipfel, zu dem die Palästinenser wahrlich getrieben und geschoben werden. Bill Clinton hat das Treffen einberufen, für Tage oder Wochen, wenn es sein muss. Er will Schirmherr sein für den großen Durchbruch, der einen hundertjährigen Konflikt beendet, einen Friedensvertrag und zwei Staaten das Existenzrecht in Palästina beschert.
Würde jeder bei der Slapstick-Einlage den Part spielen, der ihm in Camp David winkt, müsste Barak zuerst im Bungalow sein und Arafat in gebührendem Abstand folgen. Nicht gerade unter der Scheuerleiste hindurch, aber durch Verspätung auf Distanz bedacht. Der PLO-Vorsitzende möchte an diesem 11. Juli überall sein, nur nicht an diesem Ort.
Clinton hat bereits angekündigt, ergebnislos werde man nicht auseinander gehen. Schließlich soll sich wiederholen, was 21 Jahre zuvor an gleicher Stelle Jimmy Carter zustande brachte: Eintracht stiften zwischen Todfeinden. Seinerzeit reichten sich Menachem Begin und Anwar al-Sadat die Hand zu einem Separatfrieden zwischen Israel und Ägypten, das fortan aus der arabischen Front ausbrach und schmerzlich vermisst wurde. Zwei Jahrzehnte später ist im Weißen Haus alles perfekt geplant, sogar der Termin für die Vertragsunterzeichnung zwischen Arafat und Barak steht schon fest – der 13. September 2000.
Ein verzweifelter Brief
Bevor er mit düsteren Vorahnungen in die USA fliegt, hat der PLO-Chef einen verzweifelten Brief an Außenministerin Madeleine Albright verfasst. Sie wisse am besten, wie sehr die fatale Eile schade. Weder beim künftigen Status Jerusalems, noch dem Umgang mit den israelischen Siedlungen, geschweige denn bei der Schicksalsfrage – einer Rückkehr der Flüchtlinge – stehe man vor Kompromissen, die er vor seinem Volk vertreten könne. Albright weicht aus, in Camp David werde sich alles klären – für eine lange Zeit bleibe nur diese Chance. Sie weiß es besser, doch ihr Präsident will dem „Vater der palästinensischen Nation“ nun die Rechnung präsentieren für viele Streicheleinheiten während der vergangenen Jahre, allein 21 Empfänge im Weißen Haus, offizielle Beziehungen zwischen den USA und der palästinensischen Autonomiebehörde seit 1993, die erste Rede eines US-Präsidenten vor dem palästinensischen Nationalrat am 14. Dezember 1998. Diesen Akt hätte Israel gewiss als Affront empfunden, wäre Clinton nicht einen Tag zuvor ein eindrucksvoller Auftritt in der Knesset gelungen. Kein Zweifel, Allah liebt die Unerschütterlichen, aber der Präsident ohne Staat ist Bill Clinton etwas schuldig. Nicht irgendwo, nicht irgendwann, sondern jetzt in Camp David.
Kurz vor dem Gipfel sind in Stockholm Geheimverhandlungen zwischen dem israelischen Sicherheitsminister Schlomo Ben-Ami und Arafats Vertrautem Abu Ala desaströs verlaufen. Die Gastgeber kann auch das nicht beirren. Intern gibt es das Versprechen an Arafat, sollte Camp David mit einem Fiasko enden, werde niemand die Palästinenser allein dafür verantwortlich machen. Daran halten wollen sich später weder Clinton noch Barak.
Schon in den ersten Tagen des Gipfels ist spürbar, was dem selbstgefälligen Ehrgeiz der Amerikaner blüht. Der israelische Premier will 88 Prozent des Territoriums der Westbank und des Gaza-Streifens an die Palästinenser für ihren Staat hergeben, den Rest – es geht um 69 Siedlungen – aber behalten. Sich den kleinen Finger ausreißen, so sehr das auch schmerzt, um den ganzen Organismus zu retten. Die palästinensische Delegation hört schweigend zu. Als Ehud Barak um Verständnis dafür bittet, dass man für 20 Jahre mindestens die Außengrenzen allein bewachen werde und ein Zollrecht verlange, erntet er entrüstetes Kopfschütteln. Die Israelis haben mit dieser Reaktion gerechnet und deshalb ein Paket geschnürt: Sie könnten sich dazu durchringen, einen Teil der Negev-Wüste einzutauschen, sollten die Palästinenser nicht das gesamte Westjordanland beanspruchen.
Maximum und Minimum
Fortan steigert Ministerpräsident Barak sein Angebot von Tag zu Tag. Zuletzt will er 92 Prozent der Westbank aufgeben, niemals jedoch auf sämtliche Siedlungen verzichten, zwischen denen es selbstverständlich weiter Sicherheitskorridore geben soll, unterhalten von der israelischen Armee. Was den Palästinensern als Staat bliebe, wäre nicht mehr als ein fremdbestimmtes Homeland, auch wenn es fast sensationell wirkt, dass die Israelis einen Gebietsaustausch für möglich halten, der einen Teil ihres 1948 gegründeten Staates einschließt. Aber das Maximum der einen wird eben nicht zum Minimum, das die anderen für ihre Zukunft brauchen. Die Palästinenser wollen sich nicht für drei Millionen Menschen mit dem Dreieck Nablus-Hebron-Jericho begnügen, im übervölkerten Gaza-Streifen eingepfercht bleiben, bestenfalls 22 Prozent des historischen Territoriums von Palästina erhalten – und dann auch noch die israelische Armee im Nacken haben.
Vor Tische las man’s freilich anders, vor Camp David galt als Modus Vivendi, dass man sich an die UN-Resolutionen 242 und 338 halten wolle, in denen Israel aufgefordert wird, auf die Demarkationslinien vor dem Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 zurückzugehen. Die Grenzen der Westbank wären dann die Grenzen von 1967.
Zuweilen wirken die von den Israelis in Camp David angedeuteten Kompromisse wie bewusste Provokationen. So soll das gleichfalls 1967 okkupierte Ost-Jerusalem zwar künftig den Palästinensern zustehen, nicht aber das jüdische Viertel und die Klagemauer. Sandy Berger, Clintons Sicherheitsberater, verblüfft mit der Idee, den Tempelberg kurzerhand zu teilen, den oberen Teil mit der Al-Aqsa-Moschee und dem Felsendom den Muslimen zu geben, den unteren mit der Tempelmauer den Juden. Yassir Arafat, dem eine Gefälligkeit der Gesichtszüge ohnehin nicht gegeben ist, entgleiten dieselben vollends. Aufgebracht fragt er Berger und Clinton, ob es in Washington auch eine fremde Macht gebe, Mexiko zum Beispiel, die Straßen rings um das Weiße Haus kontrolliere.
Kein historischer Kompromiss
In Israel wird hingebungsvoll die Episode kolportiert, General Mosche Dayan habe, als er im 67er Krieg mit einer Handvoll Soldaten bis zur Klagemauer vorstieß, einen Zettel ins Gestein geschoben, auf dem nur das Wort Schalom stand. Warum dieser Mythos, wenn es dann im entscheidenden Augenblick doch zu keinem Historischen Kompromiss, zu keinem Schalom, reicht? In Camp David jedenfalls lässt sich für Jerusalem ebenso wenig ein Agreement finden wie bei den palästinensischen Flüchtlingen, die seit 1948 „an-nakba“, die nationale Katastrophe, verkörpern. Im Unterschied zu den Resolutionen 242 und 338 hat Israel das UN-Dokument der Nummer 194 nie anerkannt, da es allen Vertriebenen ein Recht auf Heimkehr zugesteht. Es gibt im Sommer 2000 immerhin die symbolische Geste, bis zu 5.000 Palästinenser sofort und noch einmal 15.000 bis 2010 aufzunehmen. Aber von einer Entschädigung für verlorene palästinensische Vermögenswerte, schätzungsweise fünf bis sechs Milliarden Dollar, wollen die Israelis nichts hören.
Nach zwei Wochen ist in Camp David alles vorbei, der 13. September, als Tag des Vertrages, abgesagt. Bill Clinton muss sich den Triumph schuldig bleiben. Wie zu erwarten, wird Arafat als Sündenbock ausgerufen, dem lähmende Jahre drohen, nachdem keine zwei Monate nach dem Gipfel die zweite Intifada ausbricht. Es wird eine Zeit der Isolation und Demütigung sein, die er wie ein Gefangener in der Muqata’a, seinem Amtssitz in Ramallah, zubringen muss, ausgebombt wie ein Aussätziger und dem politischen Siechtum preisgegeben. Arafat stirbt am 11. November 2004.
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