An der Schwelle zum Jahr 2013 wusste man nichts von einem NSA-Skandal, sah das westafrikanische Mali auf der Kippe zum „failed state“, ahnte den Bankenkollaps auf Zypern und rechnete mit einem weiter eskalierenden Bürgerkrieg in Syrien. Den Namen Edward Snowden kannte niemand, den von Jorge Mario Bergoglio kaum jemand. Es schien undenkbar, dass mit Benedikt XVI. ein Papst freiwillig demissioniert und schwer vorstellbar, dass in der Türkei Hunderttausende das bigotte Patriarchat eines Tayyip Erdogan erschüttern.
Die Aufzählung markanter Geschehnisse des Vorjahres lässt sich beliebig fortsetzen. Sie verweist auf die üblichen Unwägbarkeiten, wollte man ein Ereigniskorsett für 2014 schnüren. Andererseits gibt es Termine und Jahrestage, Prognosen und Konstellationen, die zum „Foresight“ einladen – in diesem Fall zum Durchspielen von Abläufen oder Situationen und sich daraus ergebenden Herausforderungen.
Die beschriebenen sechs Szenarien sind selbstredend fiktiv, basieren jedoch auf einer realistischen Konditionalität. Wer wollte bestreiten, dass der Territorialstreit zwischen China und Japan im Ostchinesischen Meer über ein Eskalationspotenzial verfügt, das wegen hegemonialer Interessen beider Großmächte nur schwer einzudämmen ist? Wird die Suche nach einem Atomkonsens mit dem Iran langwieriger und störanfälliger sein, als das nach dem Genfer Agreement vom November denkbar erscheint? Und was bedeutet es für die NATO-Präsenz in Afghanistan über 2014 hinaus, sollten die dortigen Präsidentenwahlen Anfang April vollends aus dem Ruder laufen?
Der Blick auf 2014 soll das „Fenster der Möglichkeiten“ nicht nur aufstoßen, sondern wahrnehmen helfen. Für die Politik gilt nun einmal: Der Krisenfall ist der Normalfall ist der Ernstfall. Und ob uns das gefällt oder nicht: Eine Geschichte, hat Dürrenmatt geschrieben, ist erst zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.
Afghanistan – Wir bleiben trotz alledem
April 2014. Kurz vor der Präsidentenwahl am 5. April taumelt Afghanistan chaotischen Zuständen entgegen. Wie schon beim Urnengang 2009 ist ein Streit um die Registratur der Wähler entbrannt. Die Taliban haben erkannt, dass sie in dieser Lage nicht mehr als Widerstandskraft, sondern administrativer Akteur gefragt sind, und erklären für die von ihnen beherrschten Gebiete im Süden und Osten: das Votum wird verschoben, bis allgemein anerkannte Wählerlisten vorliegen. Die im Norden und Westen starke National Front (früher: Nordallianz) sowie die ihr nahe stehende National Coalition bestehen auf der Abstimmung, da ihren Kandidaten Ahmad Zia Massoud bzw. Ex-Außenminister Abdullah Abdullah Chancen auf einen Wahlsieg eingeräumt werden. Alle Vermittlungsversuche des bisherigen Präsidenten Hamid Karzai und von UN-Generalsekrtär Ban Ki Moon scheitern.
Da sich abzeichnet, dass es in Kabul für längere Zeit keine handlungsfähige Regierung gibt, beginnt in den westlichen Hauptstädten schlagartig eine Debatte über das NATO-Engagement in Afghanistan nach dem Komplettabzug des ISAF-Korps Ende 2014. Für das von der Petersberger Afghanistan-Konferenz Ende 2011 ausgerufene „Jahrzehnt der Transformation“ (2015 – 2024) sollte es einen militärischen Anker geben – die Ausbildungs- und Beratungsmission Resolute Support (Kostenaufwand: 4,1 Milliarden Dollar/Jahr – Personalbestand: 12.000 Mann). Schon im März 2013 hatte der damalige deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière ein Bundeswehrkontingent von 800 Mann in Aussicht gestellt, was Nachfolgerin Ursula von der Leyen bei einem Truppenbesuch in Masar-i-Scharif Ende 2013 bestätigt hat.
Angesichts eines Präsidentenvotums, das in einen Bürgerkrieg zu münden droht, teilen jedoch im April 2014 die NATO-Mitglieder Niederlande, Spanien, Belgien und Dänemark mit, es werde keine Soldaten für Resolute Support geben.
Die Regierungen in Paris und Rom erklären, in ihren Parlamenten sei die Mission nicht mehrheitsfähig. Übrig bleiben die USA, Großbritannien, Deutschland und Polen. Im Bundestag spricht Kanzlerin Merkel am 15. April von einem „akuten Bedeutungsverlust der NATO“, sollte es keine Nachfolgemission am Hindukusch geben, deshalb bleibe die Bundesregierung bei ihrer Zusage.
Iran — Lady Ashton greift ein
April 2014 Die Atom-Gespräche zwischen dem Iran und der E3+3-Gruppe (USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien, Deutschland) geraten ins Stocken. Eigentlich sah der im November 2013 in Genf vereinbarte „Aktionsplan“ vor, in sechs Monaten – also spätestens im Mai 2014 – ein „umfassendes Abkommen“ über den künftigen Umgang mit dem iranischen Nuklearprogramm auszuhandeln. Nun aber beklagt Außenminister Mohammed Zarif, die Sanktionen gegen sein Land seien nicht wie versprochen gedrosselt. Man könne weder im vereinbarten Umfang von 4,2 Milliarden Dollar auf eingefrorene Öleinnahmen zurückgreifen noch gäbe es einen Durchbruch beim „humanitären Handel“ mit Medikamenten, medizinischem Equipment und Lebensmitteln.
Die Vorwürfe sind begründet. Der UN-Sicherheitsrat erhält die zwischen 2006 und 2012 verhängten Embargo-Maßnahmen aufrecht, da er sich nicht über deren Aufhebung einigen kann. Im US-Kongress blockieren zudem die Republikaner und einzelne Demokraten seit Wochen eine Entschließung der Regierung Obama, Einfuhren petrochemischer Produkte aus dem Iran wieder zu erlauben. Zugleich weigert sich der Iran, ein Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen, das der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) ein permanentes Kontrollrecht für sämtliche Atomanlagen einräumt. Gäbe es diese Unterschrift, ließe sich der gesamte Nuklearkreislauf überwachen – für Teheran ein Souveränitätsverzicht, der sonst niemandem zugemutet wird.
Am 21. April werden die Gespräche unterbrochen. US-Außenminister Kerry will nur dann nach Genf zurückkehren, wenn es einen verbindlichen Vertragsentwurf gibt. Die Amtskollegen aus Frankreich und Deutschland, Fabius und Steinmeier, schließen sich diesem ultimativen Verhalten an. Für Russland meint Sergej Lawrow, die USA redeten eine Verhandlungskrise herbei, „anstatt sie zu lösen“. Sofort fühlt sich auch Israels Premier Netanjahu auf den Plan gerufen: Wieder einmal zeige sich, dem Iran zu trauen, sei lebensgefährlich.
Noch am 21. April bittet Lady Ashton als EU-Außenbeauftragte Minister Sarif zu einem informellen Treffen und überrascht danach mit der Erklärung: „Es gibt keinen Punkt, bei dem man sich nicht einigen kann. Wir sind schon so weit und sollten jetzt nicht vor uns selbst kapitulieren.“ Die EU wird mutig.
Europawahl – EU-Gegner stark wie nie
Mai 2014. Die Allianz der Freiheit – eine Phalanx rechtsnationalistischer und durchweg euroskeptischer Parteien – erreicht bei der Europawahl zwischen dem 22. und 25. Mai 21,9 Prozent der Stimmen und fast ein Fünftel der Mandate. Nun ist es ein Kinderspiel, im EU-Parlament den Fraktionsstatus zu erhalten, wozu mindestens 25 Abgeordnete aus sieben Ländern nötig wären.
Nach ersten Hochrechnungen werden der „Allianz“ von den 750 Mandaten etwa 130 zufallen. Sie kann theoretisch sämtliche Ausschüsse besetzen und wird in der „Konferenz der Präsidenten“ präsent sein, die sich aus dem Parlamentspräsidenten wie den Chefs aller Fraktionen zusammensetzt, über die Agenda der Plenartagungen und das Personal der Parlamentsausschüsse befindet.
Ein Schock für die EU. Teilweise werden die 21,9 Prozent als plebiszitäres Minderheitenvotum gegen die Politische Union gewertet. Der Eindruck wird durch die niedrige Wahlbeteiligung von 40,9 % (2009: 43,1 %) eher verstärkt als relativiert. Radikale Europagegner können sich im Europaparlament Gehör verschaffen wie noch nie – der EU-Parlamentarismus driftet in eine Legitimationskrise.
Wie kam es dazu? Im November 2013 hatten die Vorsitzende des französischen Front National (FN), Marine Le Pen, und der Chef der niederländischen Partei der Freiheit (PVV), Geert Wilders, die Allianz der Freiheit formiert. Dem schlossen sich sieben Parteien aus dem Rechtsaußen-Spektrum an, darunter die Freiheitliche Partei Österreichs, der belgische Vlaams Belang, Italiens Lega Nord und die Slowakische Nationalpartei. Sie machten in Europa Wahlkampf gegen Europa. Man wolle sich vom „Monster in Brüssel“ befreien und Nationalstaaten ihre Souveränität wiedergeben, hieß es ständig. Mit der EU seien die Länder Europas „in der Sklaverei“ gelandet. Geert Wilders rechnete bei jedem Wählermeeting vor, was ein Kollaps der Eurozone sein Land kosten würde. Also müssten die Niederlande austreten, bevor es zu spät sei. Im Wahlprogramm der „Allianz“ wurde zum „Kampf gegen Zuwanderung“, gegen die „Islamisierung Europas“ und gegen die „Fehlkonstruktion des Euro“ aufgerufen.
Die Alternative für Deutschland hat bis zum Wahltermin jede Nähe zur „Allianz“ vermieden. Ob sich das nach den von der AfD bei der Europawahl erreichten 5,1 Prozent ändert, bleibt zunächst offen.
Westbank – Kostbarer als Öl
Juli 2014. Durch eine wochenlange Dürre- und Hitzeperiode hat sich die Wasserversorgung in den palästinensischen Westbank-Städten Jenin, Nablus und Ramallah dramatisch verschlechtert. Es tritt ein, was seit Jahren prophezeit wird: ein akuter Wassernotstand. Jedem Bewohner stehen pro Tag nur noch 25 Liter zu, beschließt die Autonomiebehörde am 9. Juli – normal sind 50 bis 70 Liter. Jetzt rächt sich, dass es in den israelisch-palästinensischen Verhandlungen nie gelungen ist, sich über ein gerechteres Wassermanagement zu einigen. Stattdessen spiegelt die Wasserverteilung weiter das Machtgefälle zwischen Besatzern und Besetzten wider.
Nach Angaben des UN-Wasserforums verbrauchten 2012 im Westjordanland 100.000 israelische Siedler genau so viel Wasser wie eine Million Palästinenser. Diese Kluft hat viel damit zu tun, dass sich Israel mit 650 bis 700 Millionen Kubikmetern pro Jahr aus dem Jordan-Becken versorgt und diese Ressourcen bis in die Negev-Wüste leitet, wenn das Wasser aus dem See Genezareth nicht reicht. In den Westbank-Dörfern der Palästinenser hingegen ist man teilweise noch auf das Bohren von Brunnen angewiesen, sofern sich das wegen der kärgliche Regenfälle und eines sinkenden Grundwasserspiegels überhaupt lohnt.
Noch am 9. Juli richtet die Autonomiebehörde ein Hilfeersuchen an die Regierung Netanjahu und den Bürgermeister von Jerusalem. Es sollte eine Notversorgung durch Wasserwagen eingerichtet werden. Der Bitte wird unter Verweis auf die Wasserknappheit in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa nicht stattgegeben. Daraufhin kommt es am 10. Juli im Großraum Ramallah zu Angriffen von palästinensischen Jugendlichen auf israelische Siedlungen. Die Armee setzt erst Tränengas ein, an manchen Orten wird scharf geschossen – Dutzende Verletzte werden geborgen. Israels Staatsgründer Ben Gurion hatte einst vorhergesagt, eines Tages werde man mit den Arabern nicht nur um Land, sondern auch um Wasser kämpfen – auch dies könne zu einem Nahostkrieg führen. Im Juli 2014 spricht alles dafür, dass der Wassermangel eine neue Intifada auslöst.
China/Japan – Schuss vor den Bug
August 2014. Ein chinesisches Patrouillenboot nähert sich dem von Japan beanspruchten Seegebiet rings um die umstrittenen Senkaku/Diaoyu-Inseln im Ostchinesischen Meer. Ein Vorgang, wie er sich so oder so ähnlich seit Wochen wiederholt. Die Spannungen eskalieren, da es Anfang Juli einen Fast-Zusammenstoß von Kampfjets beider Länder über dem Archipel gab, der japanische Pilot die Nerven verlor und sich mit dem Schleudersitz aus seiner Kanzel katapultierte. An diesem 18. August nun stellt sich ein japanischer Zerstörer dem chinesischen Schiff entgegen – es folgt ein erster Schuss vor den Bug, dann ein zweiter. Doch der chinesische Kapitän gibt nicht auf, sondern erwidert das Feuer durch ein Bordgeschütz und nimmt Decksaufbauten ins Visier – ein japanischer Marinesoldat wird tödlich getroffen. Plötzlich drehen die Chinesen ab und jagen davon.
Eine solche Konfrontation hat es bis dahin im Territorial-Konflikt zwischen Japan und China noch nicht gegeben. Umgehend beschuldigen sich die Regierungen in Tokio und Peking gegenseitig, dafür verantwortlich zu sein. Am 19. August erklärt Präsidentensprecher Jay Carney in Washington, gemäß einem bilateralen Sicherheitsvertrag von 1960 sei man verpflichtet, „territories under the administration of japan“ zu schützen – eine klare Parteinahme gegen China, das seit Jahrzehnten die Position vertritt: Wenn Japan die Inselgruppe als „sein Gebiet“ reklamiert, widerspricht das der „Potsdamer Erklärung“ vom August 1945, wonach Japan alle im Zweiten Weltkrieg geraubten Territorien zurückgeben muss, auch die Diaoyu-Inseln, wie sie im Reich der Mitte heißen. Inzwischen gehen in Japan Hunderttausende auf die Straße und fordern, „China eine Lektion zu erteilen“. Die Botschaft der Volksrepublik in Tokio wird belagert, das Konsulat in Fukuoka gestürmt. Premier Shinzō Abe gießt Öl ins Feuer, als er Tausende von Freiwilligen ermutigt, „die Senkaku-Inseln mit ihren Körpern gegen den Aggressor zu verteidigen“.
Wegen ihrer massiven wirtschaftlichen Interessen im Konfliktgebiet ruft die EU zur Mäßigung auf und will eine Vermittlungsmission nach Peking wie Tokio schicken. Japan und die USA weisen das als „unerwünschte Einmischung“ zurück. Die Fronten bleiben verhärtet im Kampf um regionale Hegemonie im asiatisch-pazifischen Raum.
Frankreich – Note A+, versetzungsgefährdet
September 2014. Ausgerechnet gegen Ende der Urlaubszeit, zum sogenannten „rentrée“, gibt die Ratingagentur Standard & Poor‘s (S&P) am 12. September, einem Freitag, bekannt, die Bonität Frankreichs auf den Finanzmärkten reiche nur noch für den Wert A+ (mittelmäßig). Es handelt sich um die zweite Herabstufung innerhalb von zehn Monaten (erst im November 2013 hatte S&P auf AA+ erkannt), so dass die zweitgrößte Ökonomie der Eurozone nun mit Irland und Italien gleichzieht. Hintergrund ist der Umstand, dass die Gesamtverschuldung Frankreichs seit Anfang 2014 auf fast 100 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung gestiegen ist. Glücklicherweise steht das Wochenende bevor, und die Börsen bleiben geschlossen, was S&P einkalkuliert haben dürfte, um der EZB Zeit für eine Reaktion zu geben, die nervösen Finanzinvestoren gefällt.
Tatsächlich tagt am Vormittag des nächsten Tages der EZB-Rat, um zu entscheiden, ob das im Sommer 2012 von EZB-Präsident Mario Draghi gegebene Versprechen erstmals eingelöst wird, Anleihen eines Eurostaates, in diesem Fall Frankreichs, teilweise aufzukaufen, bevor es zum Zinsschub kommt. Die Ratsmitglieder Jens Weidmann (Deutschland) und Ewald Nowotny (Österreich) widersprechen mit dem Einwand, keinen Präzedenzfall zu wollen – werden aber überstimmt. Die Unruhe auf den Finanzmärkten ist schon soweit fortgeschritten, dass am 15. September, zu Beginn der neuen Handelswoche, Bank und Fonds en masse verbriefte Immobilienkredite anbieten, die zuvor wegen der Niedrigzinsen extrem billig waren. Deren Refinanzierung wackelt, falls die Zinsen steigen. Es wird ein schwarzer Montag, denn der DAX fällt um gut 2.000 Punkte. Es rächt sich, dass die Geldbasis (M0) durch die von der EZB forcierte Liquiditätsschwemme in der Eurozone bei 3,5 Billionen Euro liegt, die reale Geldmenge (M1) aber nur bei 2,6 Billionen. Innerhalb von Stunden werden Wert- zu Schrottpapieren, die niemand kaufen will. Am 16. September gönnt die Agentur Moody‘s der gesamten Eurozone nur noch das Prädikat AA+ (sicher, aber unter strenger Beobachtung). Das heißt, unter solcher „Beobachtung“ stehen ab sofort wieder die Großschuldner Spanien, Portugal, Griechenland, Italien, Zypern. Alles auf Anfang?
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