Der Reigen ist eröffnet

Tunesien Der Wandel könnte die gesamte Region erschüttern. Aber noch steht der Sieg des Volkes über den Diktator Ben Ali auf schwachen Beinen

Demokratie ist kein Schenkungsakt machtbeladener Konquistadoren. Sie kann nicht von oben dekretiert werden wie im Irak oder in Afghanistan. Sie entsteht, wenn sich in einem Land wie Tunesien schon keiner mehr daran erinnert, was das eigentlich sein soll. Sie erlebt eine Wiedergeburt, weil Massenprotest und Wut das Gesetz des Handelns an sich reißen und ein Ancien Regime zur Abdankung zwingen. Der 14. Januar 2011 von Tunis wirkt wie ein 14. Juli, auch wenn es keine Bastille zu schleifen gibt. Vorerst jedenfalls nicht. Die Glut des Wandels, angeheizt von Unruhe und Rebellion, glimmt weiter, es kann sich noch mancher die Finger daran verbrennen. Ausnahmezustand wurde für Tunesien tagelang auch mit Anarchie übersetzt.

Dennoch gibt die Selbstermächtigung von Tunis dem Maghreb ein ermutigendes Flammenzeichen. Von Marokko über Algerien bis Ägypten existieren parallele Systeme der Günstlings- und Clan-Ökonomie, die über einem sozialen Unterbau thronen, dem das Überleben zugestanden, aber ein Leben in Würde verwehrt bleibt. König Mohammed VI., die Präsidenten Bouteflika und Mubarak haben seit dem Abgang Ben Alis eine Gnaden- oder Bewährungsfrist, deren Verfallsdatum nicht im Ungefähren liegt. Wieder einmal zeigt sich, wenn Macht zur Mafia degeneriert und nur vollgepumpt mit krimineller Energie an Statur gewinnt, wird sie morsch und verkommt. Sie entbehrt mit der moralischen Legitimation zugleich politische Widerstandskraft. Es ist dann nur noch eine Frage der Zeit, bis die Insassen des Obrigkeitsstaates nach jedem Respekt auch jede Angst verlieren. Es gibt ein Aufbäumen des Regimes in zügelloser Willkür wie in den zurückliegenden Wochen. Doch auch ein Amoklauf der Polizei muss irgendwann enden, spätestens wenn sich die Täter am letzten Bürger vergangen haben und über Friedhöfe wachen. Und dann?

Dann hat zum Beispiel die EU den Oberaufseher über eines ihrer Ferienreservate verloren, in dem sich der europäische Wohlstandsbürger mit seinem All-Inclusive-Paket gern als Wohltäter aufführt, der Almosen unter die Einheimischen streut. Brüssel führte Ben Ali gewiss nicht im Almanach für Musterdemokraten, unter der Rubrik „reformorientierter prowestlicher Politiker“ aber durchaus. Tunesien wurde Mitte der neunziger Jahre mit einem Assoziierungsabkommen bedacht und fand sich in die euro-mediterrane Partnerschaft (EUROMED) aufgenommen. Zuletzt mochte man fragen, weshalb Alexander Lukaschenko nicht Weißrussland in vergleichbaren Assoziationen für Osteuropa vertritt. Offenbar haben deutsche Reiseunternehmen die dortige Tourismusfolklore noch nicht so entdeckt und schätzen gelernt wie die tunesische.

Der Präsident Ben Ali galt in Paris als satifaktions- und salonfähig – der gescheiterte Diktator Ben Ali wird zum unerwünschten Ausländer, der weder mit einem Duldungsstatus rechnen noch auf einen Aufenthaltsbescheid hoffen darf. Aus gegebenem Anlass sei daran erinnert, selbst als Jean-Claude Duvalier am 7. Februar 1986 in Haiti gestürzt wurde und auf die Flucht ging, durfte er in Frankreich landen und rasten, bevor sich anderswo Asyl ergab. Es bestärkt im Glauben an die europäischen Werte, wie die EU-Prälaten von Angela Merkel bis Nicolas Sarkozy keinen Radikalopportunismus scheuen, um sich nun auch des tunesischen Wutbürgers anzunehmen. Ihre aufgesetzte Solidarität und Sympathie entlarvt vor allem eines: ihre inhaltslose Beliebigkeit.

Doch zurück nach Tunesien, auch wenn Ben Ali samt Entourage ein Emigrantendasein in Saudi-Arabien auskostet, entschieden ist wenig. Der Potentat ging, nicht so seine Staatspartei Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD), die in Selbstmitleid, Versprechen, Durchhaltewillen und Mandarine zerfällt, nicht aber in ihre Einzelteile. Interims-Staatschef Fouad Mebazaa war als Parlamentspräsident ein Paladin des Flüchtigen – ein schlechtes Zeichen. Es ist zu befürchten, dass die Sieger über Ben Ali nicht eifersüchtig genug über ihren Sieg wachen. Auch fehlt ihnen ein Anführer, der den Erben des untergegangenen Regimes nach Kräften misstraut. Schon bietet sich die Armee als Retter in der Not und Autorität der Stunde an, um Aufruhr und Anarchie einzudämmen. Es wird wohl auf das Übliche hinauslaufen – eine parlamentarische Repräsentativdemokratie, die den Bürger als Patrioten beim Gewissen packt und als Demokraten ins Gebet nimmt, damit er begreift, seinem Land und der Wahlurne etwas schuldig zu sein. Der Veränderungswille des zum Abstimmen, nicht aber zum Mitregieren gerufenen Jakobiners schwächt sich unweigerlich ab. Wenn eine Revolution in der Republik ankommt, hat sie ihre beste Zeit meist hinter sich. Dieser erprobten Praxis werden die staatstragenden Eliten Tunesiens um ihrer selbst willen viel abgewinnen.

Dem Land fehlt nach Jahrzehnten des Absolutismus eine artikulationsfähige und unnachgiebige Opposition (womit nicht die islamistische Versuchung gemeint ist). Andererseits lernen Menschen während einer Phase, da aus einem Umsturz ein Umbruch werden kann, in einer Stunde mehr als in Jahren gewöhnlicher, stupider Alltäglichkeit. Zunächst einmal haben sie in Tunesien die kollektive Orgie des Selbstverleugnung beendet.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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