Die EU besitzt die seltene Gabe, häufig genau das zu tun, was ihr selbst schadet. Und eine Politik zu betreiben, die ihren proklamierten Idealen ins Gesicht schlägt. Wurde einst bei den Kosovo-Albanern das Recht auf politische Selbstbestimmung hochgehalten, gilt das für die Katalanen, speziell eine sich darauf berufende Ex-Regionalregierung, eher weniger.
Bisher wurde in Brüssel nicht nur auf jede Geste der Solidarität und des Verständnisses verzichtet, auch Vermittlungsangebote unterblieben. Weder das repressive Vorgehen der spanischen Polizei beim katalanischen Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober 2017, noch die juristische Vergeltung danach, die einem Rachefeldzug zu gleichen schien, waren der EU einen Tadel, geschweige denn Kritik oder Missfallen wert
So kann die konservative Regierung Rajoy bis heute mit ihrem rigiden Kurs fortfahren, der unverhüllt darauf abzielt, den Unabhängigkeitsparteien in Katalonien ihnen zustehende Rechte zu bestreiten, vor allem aber deren Führern die soziale und politische Existenz zu nehmen.
Anklage gegen Turull
In Brüssel, aber eben auch in Berlin, hält man dennoch eine Neutralität und Nichteinmischung für geboten, die in Wirklichkeit auf eine Kapitulation vor der kompromisslosen Härte der spanischen Exekutive gegenüber dem Souveränitätsbegehren einer Mehrheit in Katalonien hinausläuft. Schließlich wurden die Regionalwahlen am 21. Dezember erneut von den Unabhängigkeitsparteien gewonnen, doch werden sie an einer Regierungsbildung gehindert. Der designierte Regionalpräsident Jordi Turull ist durch den Obersten Gerichtshof in Madrid zusammen mit 13 anderen katalanischen Politikern der Rebellion angeklagt, sitzt in Haft und muss mit einer Verurteilung rechnen, bei der eine Strafe von bis zu 30 Jahren möglich ist.
Da passt es ins Bild, wenn nun ausgerechnet in Deutschland der ehemalige Regionalpräsident Carles Puigdemont festgenommen wird, nachdem ihm in Belgien faktisch ein Asylstatus zugestanden wurde. Soviel man sich auf den unumgänglichen Vollzug eines soeben von Spanien erneuerten Europäischen Haftbefehls beruft, die Verhaftung und mögliche Auslieferung sind ein Politikum, das die Bundesrepublik bei allem Bemühen um Konfliktabstinenz zu einem Konfliktbeteiligten macht. Während die finnischen Behörden offenkundig einen Zugriff auf Puidgemont verweigerten und erklärten, der sei in Helsinki „unauffindbar“, haben die Behörden in Schleswig-Holstein beflissen und mit legalistischem Eifer den bewussten Haftbefehl vollstreckt. Es soll dazu Hinweise spanischer Beschatter und Verfolger Puigdemonts gegeben haben. Kommt es zur Auslieferung, werden die deutschen Behörden als Vollstrecker einer politisch gefärbten Strafjustiz in Erscheinung treten.
Jagd auf "Hochverräter"
Die Berufung auf geltende EU-Regeln wird dagegen nicht ankommen. So wie der Konflikt in Spanien politisch zugespitzt wird, muss sich das auf die EU auswirken. Die ist inzwischen zur Beihilfe entschlossen, wenn es gilt "Hochverräter" zu jagen und aus dem Verkehr zu ziehen. Als Ausweis politischer Zurechnungsfähigkeit kann das nicht genommen werden, eher als Bankrotterklärung.
Und Deutschland als EU-Führungsmacht? Moralischer Schaden ist programmiert. Immerhin hat Belgien den Verfolgern Carles Puigdemonts nicht zur Verfügung gestanden und ihm stattdessen Aufenthalt und Asyl gewährt. Vielleicht ist soviel Klugheit denkbar, dass Puigdemont zwar unter Arrest gestellt, aber nicht an Spanien übergeben wird. Es wäre auch eine Frage des historischen Fingerspitzengefühls, schließlich wurde der katalanische Regionalpräsident Lluis Companys, ein erklärter Republikaner, 1940 von der deutschen Besatzungsmacht in Frankreich an die Franco-Justiz ausgeliefert und am 15. Oktober 1940 in Barcelona hingerichtet.
Nicht nur angesichts des erneut eskalierenden Konflikts um Katalonien, auch gemessen an Traditionen der EU ist die verweigerte Verantwortung zur Vermittlung ein schwer nachvollziehbarer Vorgang. Gegenüber anderen Bewegungen zur politischen Selbstbestimmung hat es das nie gegeben. 1990/91 wurden die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Sowjetrepubliken gegen die UdSSR ausdrücklich unterstützt. Im Zypern-Konflikt wird seit Jahrzehnten vermittelt, bei der Sezession des Kosovo von Serbien ist die EU gar federführend in Erscheinung getreten und hat Teile der politischen und juristischen Verwaltung des Anfang 2008 auf der Taufe gehobenen Staates selbst übernommen. Macht sich die EU endgültig die offizielle spanische Lesart des Katalonien-Konflikts zu eigen, degradiert das die Theorie von einem Europa der Regionen zur Farce.
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