Die Stunde der Wahrheit für die seit der Nacht zum 15. Februar geltende Waffenruhe schlägt erst, wenn ein Rückzug schwerer Waffen nicht nur beginnt, sondern flächendeckend stattfindet. Ein solches Disengagement tangiert das militärische Reaktionsvermögen der Konfliktparteien in der Ostukraine. Wenn dann jemand die Feuerpause bricht, kann das zu einseitigen Vorteilen führen. Wer will das riskieren? Noch dazu, wenn es nicht den Hauch eines Vertrauens zwischen den Kombattanten gibt. Die Kämpfe um die strategisch wichtige Stadt Debalzewo haben gezeigt, wie weit man auf beiden Seiten davon entfernt.
Psychologische Pufferzonen, um Verstöße gegen den Waffenstillstand aufzufangen, sind undenkbar. Um so mehr ist das politische und mediale Rahmenprogramm in Deutschland zu dieser Feuerpause weder sinnvoll noch konstruktiv. War man sich beim Rückblick auf „Minsk I“ noch einig, dass sein Scheitern „offenbar beide Seiten“ zu verantworten haben, steht bei „Minsk II“ schon weitgehend fest, dass es an Moskau und den ostukrainischen Aufständischen liegt, wenn bestenfalls eine brüchige Waffenruhe existiert. Die ukrainische Regierung, von der man weiß, dass nur ein Teil der Militärformationen im Osten auf sie hört, wird Absolution erteilt. Als gäbe es keine nationalistischen Freiwilligenverbände oder von Oligarchen bezahlte „private Militärdienstleister“, die bisher einen eigenen Krieg nach eigenen Gesetzen geführt haben, weil sie eben sehr eigene Interessen haben.
Soviel lässt sich jetzt schon sagen, es wird keinen belastbaren Frieden geben, solange die ideologische Mobilisierung gegen Russland anhält. Dass dann auch noch am Tag nach der Waffenruhe neue Sanktionen der EU verhängt werden, weil ein Vorratsbeschluss gefasst ist, den keiner zu kassieren wagt, gehört in die Kategorie fatales Signal. Wer sich dafür stark macht, sollte daran erinnert werden, dass unmittelbar nachdem „Minsk I“ am 5. September 2014 unterschrieben war, genauso verfahren und nichts besser wurde.
Was von den vom 11. Februar in Minsk getroffenen Vereinbarungen funktioniert oder versagt, hängt im Grunde genommen davon, wie groß oder klein der Abstand dieser Vorgaben zur Generalagenda der Konfliktparteien EU, NATO und USA auf der einen und Russland auf der anderen Seite ist.
Westliche Agenda
Für die EU – besonders Deutschland – gilt unverkennbar das Axiom, mit maximaler Anstrengung eine pro-westliche Regierung in Kiew zu halten, ohne dabei militärische Risiken einzugehen, die zur bewaffneten Konfrontation mit Russland führen. Der Minsker Prozess ist davon geprägt – mit seinen Chancen und Grenzen. Kurz vor dem Gipfel in Weißrussland drohte der ukrainische Präsident Poroschenko damit, im ganzen Land das Kriegsrecht zu verhängen, was ihm diktatorische Vollmachten verschafft hätte. Gegen wen die sich richten, darüber soll hier nicht spekuliert, aber angedeutet werden: Damit lassen sich kriegsunwillige Reservisten ebenso zur Räson bringen wie oppositionelle Politiker.
Angela Merkels und François Hollandes „Minsker Mission“ war insofern auch ein Rettungsakt zugunsten der Kiewer Administration, um deren politischen Ruin und ökonomischen Kollaps zu vermeiden. Seither wird an finanziellen Überlebenshilfen mobilisiert, was immer sich aufbieten lässt, allein 17,5 Milliarden Dollar des IWF soll es geben. Der ukrainische Staat wird schon seit dem Machtwechsel in Kiew vor einem Jahr aus externen Quellen alimentiert und damit in die Lage versetzt, überhaupt kriegsfähig zu sein. Was wiederum auf die westliche Agenda verweist: Die Ukraine diesmal halten! Sie ist das strategisches Einfallstor, um die postsowjetische Staatengruppe von Armenien bis Usbekistan, vor allem aber die Großmacht Russland permanent beeinflussen zu können. Bis dahin mag es noch ein weiter Weg sein – ob der aber überhaupt beschritten werden kann, entscheidet sich jetzt.
Das heißt, dieser Option verlustig zu gehen, liefe nach dem betriebenen Aufwand und der Parteinahme für Kiew – Kanzlerin Merkel hat klar zum Ausdruck gebracht, dass sie in Minsk keine neutrale Moderatorin sein wollte – auf eine Niederlage hinaus, wie sie für die postpolare Welt des Westens seit 1990 ohne Beispiel wäre. Es soll sich nicht wiederholen, was nach der Orangenen Revolution von 2004 passiert ist – ein Scheitern des prowestlichen Lagers in Kiew. Diesmal würde ein solcher Einbruch als Konsequenz der mit Russland gesuchten Kraftprobe den Westen insgesamt schwer treffen.
Daraus folgt, eine De-Eskalation ist auch, aber nicht zuerst eine Frage von Pufferzonen und Rückzügen in der Ostukraine, sondern der Eindämmung des Grundkonflikts, der zu einem ukrainischen Bürgerkrieg geführt hat.
Im Grunde genommen muss man zurück in der Jahr 1990, als es den euphorisch beschworenen Neuanfang in den Ost-West-Beziehungen geben sollte, aber – wie allein der Fortbestand der NATO zeigte – nicht wirklich gab. Was es gab, war der Rückgriff auf eine geopolitisch grundierte Ordnungspolitik, mit der die Sieger des überwundenen Ost-West-Konflikts auf eine neue Kräftebalance zuungunsten Russlands setzten. Dadurch entstand eine europäische Sicherheitsordnung, die – wie nun offenbar wird – alles andere als krisenfest ist. Und es mittelfristig nicht sein wird.
Russische Agenda
Worin besteht für die russische Führung aus realpolitischer Sicht ein möglicher Kompromiss? Vermutlich kommt folgender Ausweg in Betracht: Die Ukraine wird zu einem blockfreien Puffer- wie Brückenstaat zwischen West- bzw. Mittelosteuropa einerseits und dem russischen Teil Europas sowie Eurasien andererseits. Was hieße, es wäre sowohl der einstige Partnerstatus zwischen Moskau und Kiew hinfällig, aber ebenso die Vorstellung obsolet, einen Frontstaat des Westens gegen Russland in Stellung zu bringen.
Man fühlt sich unversehens an deutschlandpolitische Positionen der sowjetischen Regierung aus den frühen fünfziger Jahren erinnert, als Moskau eine Wiedervereinigung beider deutscher Staaten für denkbar hielt, sofern ein neutrales Gesamtdeutschland daraus hervorgehe und international garantiert sei. So wie es bei Österreich ab 1955 funktioniert hat.
Welche Ukraine für das Puffermodell in Frage kommt, lässt sich ebenfalls skizzieren: Sie sollte souverän, aber nicht antirussisch sein. Dass daran im Augenblick – nach zehn Monaten Bürgerkrieg, der ausgelösten Polarisierung und den Leiden der Zivilbevölkerung – nicht zu denken ist, liegt auf der Hand. Aber der grundsätzliche Interessengegensatz zwischen dem Westen und Russland wird sich nur durch einen derart strategischen Kompromiss eindämmen lassen. Je näher man dem kommt, desto wahrscheinlicher wird eine Rückkehr zum ukrainischen Einheitsstaat, wie er bis zum 22. Februar 2014, dem Tag des Janukowytsch-Sturzes, bestand. Dass es dazu einer neuen Verfassung bedarf, steht außer Zweifel. Dabei müssen staatliche Einheit und territoriale Integrität nicht identisch sein, wenn dem Osten autonome politische Rechte zugestanden werden, die sich an der Regionalisierung föderaler Systeme orientieren.
Man kann es auch so ausdrücken: Bis ein solcher Kompromiss nicht von den ukrainischen Konfliktparteien und ihren externen Paten als alternativlos empfunden und vertraglich implementiert wird, ist kaum davon auszugehen, dass die Poroschenko-Administration in Donezk oder Luhansk wieder Fuß fasst. Es sei denn, die „Volksrepubliken“ werden militärisch überrollt, und Russland rührt keinen Finger. Was nicht allein deshalb abwegig ist, weil Präsident Putin damit innerhalb der Russischen Föderation einen irreparablen Legitimationsverlust erleiden würde. Russland müsste zugleich auf eine gewisse Vetomacht gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine verzichten. Denn bleibt es bei dem bisher in der Allianz geltenden Axiom, dass nicht aufgenommen wird, wer ungelöste territoriale Konflikte oder offene Konflikte mit Drittstaaten ins Bündnis trägt, muss die Ukraine draußen bleiben. Sie würde der NATO nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949 den permanenten Bündnisfall und eine sich daraus ableitende Beistandspflicht bescheren, die zum militärischen Crash mit Russland führen könnte. Das kann keine Lösung sein, hat Kanzlerin Merkel stets beteuert. Was folgt aus dieser Einsicht
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