Es gäbe ein „vorübergehendes Übergewicht“ der Mudschaheddin, konstatiert das sowjetische Oberkommando in Afghanistan am 16. Juli 1987 in seinem Tageskommuniqué. Eine kleine Sensation? Zumindest hat es ein solches Eingeständnis zuvor nie gegeben. Die Lage des eigenen Afghanistan-Korps – es umfasst um diese Zeit etwa 105.000 Soldaten – muss prekär sein. Die im Jahr 1980 formierte Islamische Front, eine Sieben-Parteien-Allianz des Widerstandes, ist im Osten und Süden des Landes auf dem Vormarsch, weil die sowjetischen Piloten ihre Lufthoheit nicht mehr ausspielen können. Seit September 1986 verfügt die Guerilla über von den USA gelieferte Luftabwehrraketen des Typs Stinger, die wegen ihrer mobilen Abschussmöglichkeiten und hohen Trefferquote für erhebliche Verluste sorgen.
Wie Bauchredner des Zeitgeistes geben die ihre Gesichter stets verhüllenden Mudschaheddin den Sowjets zu verstehen, auf verlorenem Posten zu kämpfen und am Hindukusch ihr Dien Bien Phu gefunden zu haben, wie es 1954 der französischen Kolonialherrlichkeit in Indochina widerfahren ist. Will die UdSSR ihre Reputation als Supermacht retten und dies überzeugend tun, muss sie einen Krieg gewinnen, der weder zu gewinnen noch zu verlieren ist, den man nur stets von Neuem verlängern kann. Sich diesem Irrsinn auszuliefern, kann sich heute Präsident Obama nicht leisten – noch weniger ist das Ende der achtziger Jahre dem Reformer Gorbatschow erlaubt. Sein Programm, den Sozialismus durch Erneuerung zu erhalten, bleibt ein frommer Wunsch, solange sein Land mit diesem Krieg, in dem jährlich mehr als 1.000 Soldaten fallen, moralisch ruiniert und ökonomisch verschlissen wird.
Zu einem geordneten Rückzug gibt es keine Alternative – zu einem damit verbundenen Prestigeverlust durchaus. Von der UNO seit 1982 vermittelte Verhandlungen zwischen Pakistan und Afghanistan weisen den Ausweg für einen Ausstieg. Wie sich später herausstellt, gerät der Rückzug zum Vorspiel für den Abschied der Sowjetunion von sich selbst. Auch wenn diese Legierung der damaligen Vorgänge historisch einmalig ist, so verdeutlicht sie doch, welch destruktive Wirkung aus vermeintlicher strategischer Notwehr gefällte Entschlüsse über Frieden und Krieg haben können. Für den Afghanistan-Einmarsch der Sowjetunion Ende 1979 trifft das ebenso zu wie auf die Invasion der USA im Oktober 2001.
Prozeduren und Garantien
Wie heute politische Lösungen für Afghanistan auch immer ausfallen mögen – ob sie in Exit-Strategien münden oder nicht, ob Afghanistan Souveränität zurückgegeben wird oder auf Dauer entzogen bleibt, weil das Stigma des „gescheiterten Staates“ (failed state) ein Protektorat nahelegt – es lohnt sich, die Modalitäten des sowjetischen Abzugs von 1988/89 zu analysieren, um Muster zu erkennen, die noch immer von Wert sein können. Sicher ist das Argument berechtigt, dass im Zeitalter des Ost-West-Konflikts andere Regeln galten. Aber allein die Frage, wer mit wem wo verhandelt, offiziell oder informell, rückt diplomatische Prozeduren ins Blickfeld, die übertragbar sind.
Zur Erinnerung: Gut zweieinhalb Jahre nach der sowjetischen Intervention hatte der ecuadorianische Diplomat Diego Cordovez als „persönlicher Beauftragter“ von UN-Generalsekretär Pérez de Cuellar Mitte 1982 erste Afghanistan-Sondierungen begonnen. Sie dauerten sechs Jahre und führten schließlich im April 1988 zu mehreren in Genf unterzeichneten Abkommen. Dabei mussten Konfliktparteien wie die säkulare pro-sowjetische Regierung der Demokratischen Volkspartei (DVA) in Kabul und das autoritär-islamische Regime des Generals Zia ul-Haq in Islamabad zusammengebracht werden. Letzterer verachtete die Ungläubigen auf der anderen Seite und verweigerte ihnen jede Anerkennung. Direkte Kontakte waren daher ausgeschlossen, so dass Diego Cordovez nur indirekte Verhandlungen blieben, bei denen die Konfliktparteien fast bis zum Schluss nie von Angesicht zu Angesicht miteinander verkehrten.
Da sich Amerikaner und Sowjets am Hindukusch zwar nicht gegenseitig beschossen, sich aber einen erbitterten Abnutzungskrieg lieferten, waren die Vereinten Nationen allein zu schwach, um erfolgreich verhandeln zu können. Sie brauchten eine Sicherheitspartnerschaft mit den Supermächten, die sich als Garantiestaaten vertraglich einbinden ließen. Zudem musste Afghanistan nicht nur als Schauplatz eines Ost-West-, sondern ebenso eines regionalen Konflikts begriffen werden. Allein die Verstrickung Pakistans ließ keine andere Wahl. Auch der Iran, der seit 1980 Hunderttausenden afghanischen Flüchtlingen ein Refugium bot, war als informeller Verhandlungspartner beteiligt. Auch wenn der Begriff damals nie auftauchte, zeichnete sich die objektive Notwendigkeit zur regionalen Verantwortungsgemeinschaft ab.
Wie nahmen nun die Cordovez-Mission und die sowjetisch-amerikanischen Garantien Gestalt an? Nach Sondierungen des UN-Emissärs in Kabul, Islamabad und Teheran (Phase I) fiel im April 1984 die Entscheidung, die „Form der Verhandlungen“ – wie es hieß – zu ändern und indirekte Gespräche in Genf aufzunehmen (Phase II). Die Pendeldiplomatie zwischen drei Hauptstädten wich einer Pendelmoderation zwischen Delegationen Afghanistans und Pakistans am Europäischen UN-Sitz. Zu direkten Verhandlungen (Phase III) kam es erst kurz vor Abschluss von mehreren Verträgen zwischen Afghanistan und Pakistan am 14. April 1988 in Genf, die eine geregelte Bilateralität zum Fundament der Befriedung Afghanistans erklärten.
Dieses Paket von Verträgen wurde ergänzt durch ein Dokument mit dem umständlichen Namen Abkommen über die Wechselbeziehung für die Regelung der Afghanistan betreffenden Situation. Darin war im Artikel 5 der maßgebliche Passus über den Abzug der Sowjet-Truppen zu lesen. Von denen sollte bis zum 15. August 1988 die Hälfte (etwa 50.000 Soldaten) Afghanistan verlassen haben – der Rest innerhalb von neun Monaten bis Februar 1989 folgen.
Nischen und Kanäle
In mehrjährigen Verhandlungen wurden in Genf aus Konfliktparteien zwar keine Gesprächs-, aber immerhin Vertragspartner – was drei Katalysatoren geschuldet war, die heute mehr denn je Beachtung verdienen: erstens, dem unbedingten Willen der UdSSR zum militärischen Disengagement, zweitens der relativ kurzen Frist, die es dafür gab, und drittens den Garantien, die dafür sorgten, dass die beiden Supermächte einen politischen Schulterschluss nicht scheuten. In der von ihnen am 14. April 1988 in Genf zeitgleich mit den anderen Afghanistan-Abkommen unterzeichneten Erklärung über internationale Garantien stand der Satz, man wolle sich „jeder Form von Einmischung (...) in die inneren Angelegenheiten der Republik Afghanistan und der Islamischen Republik Pakistan enthalten“.
Die von der UNO moderierten indirekten Verhandlungen zwischen 1982 und 1988 hatten es im Übrigen gestattet, über die Regierung in Islamabad auch den afghanischen Widerstand einzubinden. Ein sinnvolles Verfahren, da sich die Sieben-Parteien-Allianz nicht nur auf das zu beiden Seiten der Grenze lebende Volk der Paschtunen stützte, sondern Pakistan als Rückzugsgebiet und Transitland für den Waffennachschub aus den USA involviert war.
Inzwischen lebt eine solche Gesprächsform wieder auf, seit im September 2008 in Mekka (auf Einladung von König Abdullah) Qayyum Karsai, der Bruder des afghanischen Präsidenten, und der pakistanische Oppositionsführer Nawaz Sharif mit gemäßigten Taliban wie Ex-Außenminister Wakil Muttawakil und Mullah Abdul Salaam (bis 2001 Botschafter in Pakistan) konferierten. Als im Februar 2009 diese Nischen-Diplomatie auf Wunsch des saudischen Geheimdienstchefs Prinz Muqrin bin Abdulaziz al-Saud fortgesetzt wurde, sickerte durch, dass sowohl Taliban-Führer Mullah Omar als auch der Veteran des islamischen Widerstandes, Gulbuddin Hekmatyar (Partei Hezb-i-Islami), interessiert seien. Mullah Omar hat mit dem einstigen Taliban-Finanzminister Aghajan Mutasim gar einen Vertrauten benannt, um die Gesprächskanäle von Riad auszuloten.
Sieger und Verlierer
Die 1988 ausgesprochenen Garantien besaßen für die um ihren internationalen Ruf besorgte Sowjetunion den Vorzug, trotz der militärischen Demission nicht vollends aus einer politischen Mission für Afghanistan verdrängt zu werden. Wäre für die USA wie auch die NATO eine ähnliche Bürgschaft denkbar, wenn es etwa der UNO gelänge, sie als Partner einer regionalen Verantwortungsgemeinschaft für Afghanistan zu gewinnen? Wenn Status und Selbstverständnis der westlichen Allianz bedacht werden müssen wie seinerzeit das Prestige der östlichen Weltmacht?
Vor 20 Jahren wurde mit der sowjetisch-amerikanischen Garantie-Erklärung suggeriert, das blutige Kräftemessen am Hindukusch gehe mit einem Ost-West-Patt zu Ende. Ein taktisches Manöver, um den sowjetischen Abzug nicht als Niederlage, sondern Sieg der Vernunft etikettieren zu können. Den Amerikanern konnte nicht daran gelegen sein, eine im Umbruch befindliche Sowjetunion durch einen demütigenden Afghanistan-Ausstieg zu erschüttern – ihr Interesse an einem stabilen Ost-West-Verhältnis war ungebrochen. Entscheidend erschien in diesem Augenblick allein, dass am 15. Februar 1989 mit General Boris Gromow der letzte sowjetische Soldat die Termez-Brücke am Grenzfluss Amu Darja überquerte und afghanischen Boden verließ.
Die Formel, mit der sich 1987/88 die strategische Misere des sowjetischen Afghanistan-Korps auf den Punkt bringen ließ, lautete: Wenn dieser Krieg weiterhin geführt werden soll, müssen mehr Soldaten eingesetzt und die Grenzen Afghanistans überschritten werden. Die Parallelen zum Jahr 2009 sind eindeutig – militärisch durchsetzen können sich auch die USA und die NATO nur dann, wenn sie dafür einen extrem hohen Preis zahlen, ihre Truppen auf mehr als 500.000 Mann aufstocken und den Krieg ohne Wenn und Aber auf Pakistan ausdehnen. Das verlangt von den westlichen Gesellschaften kriegsfähig zu sein wie nie zuvor seit 1945. Allein aus diesem Grund kann es keine rein militärische Lösung geben, sondern es wird nur ein Friedensschluss möglich sein, der die USA nicht über Gebühr beschädigt und die paschtunischen Gotteskrieger als Alleinherrscher ausschließt. Letzteres kristallisiert sich als Ziel der neuen AFPAK-Strategie der Obama-Regierung heraus, die nur sinnvoll sein kann, wenn sie irgendwann Gespräche mit allen Konfliktparteien ermöglicht, egal, wie und wo die geführt werden.
Im Zeitraffer: Afghanistan 1979-1989
1979
Die sowjetische Armee interveniert am Hindukusch am 28. Dezember wird der frühere Premier Babrak Karmal von der Demokratischen Volkspartei (DVA) als neuer Staatspräsident eingesetzt, der Vorgänger Hafizullah Amin erschossen.
1980
Sieben afghanische Widerstandsgruppen schließen sich am 27. Januar zur Islamischen Allianz zusammen ihr provisorischer Sitz ist Peschawar in Pakistan.
1982
Bei einer Explosion im Salang-Tunnel sterben über 1.000 Menschen, darunter 700 Sowjetsoldaten. Moskau spricht von Sabotage, die Rebellen reklamieren einen Anschlag. Am 16. Juni beginnen Afghanistan-Gespräche der Vereinten Nationen.
1986
Mohammed Nadschibullah löst am 4. Mai Barbrak Karmal als Staatschef ab und verfolgt einen Kurs der nationalen Versöhnung. Am 31. Oktober holt KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow mit einer symbolischen Geste etwa 8.000 Soldaten zurück.
1987
Bei einer Rebellenoffensive in der Provinz Nangahar (östlich von Kabul) kommen im Juli mehr als 1.000 sowjetische Soldaten ums Leben. Ein Militärsprecher in Kabul gibt daraufhin eine vorübergehende Überlegenheit der Mudschaheddin zu. Im Dezember kommt es mit der Schlacht von Chost zum schwersten Gefecht seit Ausbruch des Krieges.
1988
In Genf unterzeichnen Pakistan und Afghanistan mehrere Verträge zur Normalisierung ihrer Beziehungen. Garantiemächte sind die UdSSR und die USA. Es wird festgelegt, dass der sowjetische Truppenabzug am 15. Februar 1989 abgeschlossen sein soll. Am 15. August bestätigt der sowjetische Oberkommandierende: Von den zu diesem Zeitpunkt 100.000 Soldaten ist die Hälfte aus Afghanistan abgezogen.
1989
Das letzte Militärkontingent der UdSSR verlässt am 15. Februar afghanischen Boden.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.