Worüber haben die Angeordneten der Regierungskoalition eigentlich abgestimmt? Man muss nicht sklavisch der Agenda dieser Sondersitzung des Bundestages folgen, um die Frage zu beantworten. Sicher, das Votum an diesem 19. August galt dem dritten Griechenland-Paket seit 2010.
Doch konnte die weiter wachsende Schar der Dissidenten in der Fraktion von CDU/CSU (diesmal 63mal nein und drei Enthaltungen) auch von der Einsicht beseelt sein, dass sie über die Griechenland-Politik der eigenen Regierung und deren nicht eben makellose Erfolgsbilanz zu befinden hatten. Sähe die besser aus, müsste es diesen erneuten Kraftakt der Euro-Rettungsgemeinschaft nicht geben.
Als Athen im Frühjahr 2010 erstmals am Abgrund zum Staatsbankrott stand, lagen die griechischen Gesamtschulden noc
stand, lagen die griechischen Gesamtschulden noch bei 120 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung bzw. des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Inzwischen driftet diese Quote der 200-Prozent-Marke entgegen und ist aus eigener Kraft nicht mehr beherrschbar. Diese Einsicht vereint inzwischen den Schuldner und das Gros seiner Gläubiger. Die Regierung von Alexis Tispras und ihr erster Finanzminister Yanis Varoufakis haben das seit Januar erklärt. Sie finden derzeit in der Eurozone mehr und mehr Gehör. Not- und PflegefallWer Griechenland fünf Jahre lang der ökonomischen Sklerose und Selbstausbeutung aussetzt, darf sich nicht wundern, wenn das Land zum Not- und Pflegefall der Währungsunion wird. Es wäre daher ein Gebot der politischen Ehrlichkeit oder gar der Wahrheitsliebe, hätten die Neinsager aus der Union ihr Veto mit dem Versagen der eigenen Regierung begründet. Deren wirtschaftspolitische Expertise hält sich bekanntlich in Grenzen. Aber wer leistet sich heutzutage schon Ehrlichkeit? Wer riskiert, aus der Rolle zu fallen? Einfach nein zu sagen, das bedient eine landauf landab raunende Basta-Stimmung und darf sich des Beifalls einer Mehrheit sicher sein. Die Tabula-Rasa-Ansage findet Anhänger. Sie ist populär, weil populistisch. Ablehnung von Griechenland-Hilfen bedeutet in der Konsequenz, man bekennt sich zum befristeten oder generellen Verweis des lästigen Partners aus der Eurozone. Denn eines steht fest: Ohne das mit dem jetzigen Hilfsprogramm schnell gezimmerte Geländer gegen den Absturz, wäre der Grexit fällig. Man kann dafür als Neinsager stimmen, ohne dass es dazu kommt. Komfortabler geht es kaum. Die Hand heben und zugleich in Unschuld waschen. Als Stimmungsmacher in der Minderheit zu sein, schützt vor Verantwortung. So gehen einem die Bekenntnisse leicht über die Lippe. Dass Kanzlerin Merkel dabei – in Maßen – Schaden nimmt, hat sie sich redlich verdient. Nur leider reichen 63 Nein-Stimmen noch nicht, auf dass die Absurdität ihrer Griechenland-Politik zum verdienten politischen Abgang zwingt. Ist ehrlicher und integrer, wer heute aus den Berliner Regierungsfraktionen zugestimmt hat? Man könnte das bejahen, wäre ein solches Votum tatsächlich mit der Eingeständnis verbunden: Griechenland wurde ökonomisch derart widersinnig behandelt, dass es jetzt erst recht eine Chance verdient, da in Athen eine Regierung handelt, die über das klare Mandat wie die gebotene politische Integrität zum Umbau des Landes verfügt – aber dafür Zeit braucht. Drei Jahre mindestens, wie sie das jetzige "Memorandum of Understanding" einzuräumen verspricht. Ernste BesorgnisDie Jasager konnten sich auf Finanzminister Schäuble berufen, der plötzlich einer der Ihren war. Noch keinen Monat ist es her, dass er die Griechen aus der Währungsraum kippen und ins ökonomische Nirwana schicken wollte. Offenbar hat eine Mehrheit in der Gläubigerfront – von der EZB bis zum IWF – , aber auch unter den Eurofinanzministern, die keinen Grexit wollte, zum vorläufigen Umdenken gezwungen. Es gibt bei Schäuble sogar ein indirektes Eingeständnis, wie widersinnig des sture Festhalten am Nein zu einem Schuldenschnitt für Griechenland ist. In einem Brief des Finanzminister vom 17. August an den Bundestagspräsidenten – das Schreiben darf als Beschlussvorlage für die Debatte und Entscheidung im Bundestag gelten – werden unter Punkt c) Schuldentragfähigkeit, Szenarien zum Schuldenverlauf referiert. Zitiert wird ein Basisszenario der EU-Kommission, wonach „der Schuldenstand Griechenlands von 196% des BIP im Jahr 2015 auf 201 % im Jahr 2016 steigt und danach auf 175% im Jahr 2020 und 160% im Jahr 2022 fällt.“ In einem Risikoszenario gehe die Kommission freilich von einem Schuldenstand von 199 Prozent in diesem Jahr aus, 207 % dann 2016, schließlich „186% im Jahr 2020 und 174 % des BIP im Jahr 2022 aus.“ Fazit: „Die aus der vorliegenden Analyse hervorgehende hohe Schuldenquote und der Bruttofinanzierungsbedarf geben laut Europäischer Kommission Anlass zu ernsthafter Besorgnis im Hinblick auf die Tragfähigkeit der griechischen Staatsverschuldung.“Der IWF spielt nicht mit Weil das Bedrohliche dieser Szenarien außer Zweifel steht, sind mit dem dritten Hilfspaket Kredite des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) vorgesehen, für die Laufzeiten von über 30 Jahren und Zinssätze von etwa einem Prozent gelten. Eine solche Vorzugsbehandlung für Athen gab es noch nie seit 2010. Sie reflektiert unzweideutig die Erkenntnis, dass es eine Entlastung bei den Schulden geben muss, die substantieller Natur ist. Auch darin spiegelt sich das Eingeständnis, mit solcher Nachsicht aus wirtschaftlicher Vernunft viel zu lange gewartet zu haben. Dazu kann man im Bundestag vorbehaltlos ja sagen. Schließlich kommt darin eine prinzipielle Position des IWF zum Ausdruck, der dieser Bundesregierung immer ein begehrter Partner war in Sachen Griechenland. Begehrter jedenfalls als die EU-Kommission unter ihrem heutigen Präsidenten Jean-Claude Juncker. Was der IWF will, lässt sich an Plausibilität nur schwer überbieten: die Laufzeiten der neuen Kredite auf 50 bis 60 Jahre strecken, zugleich die Zinsen senken oder gar für eine bestimmte Zeit gänzlich aussetzen. Dieser Ansatz ist weder Griechen-, noch Syriza-, noch Tsipras-freundlich, sondern pragmatisch und geht davon aus: Nur Schuldentragfähigkeit erlaubt eine Rückkehr zu Wettbewerbsfähigkeit. Dazu hätten alle CDU-CSU-Parlamentarier getrost ja, eören die damit ihrer Kanzlerin nicht zu nahe getreten. Die hatte bisher unablässig versichert, der IWF müsse dabei sein, wenn es ein drittes Hilfspaket gebe – ist der Fonds bisher nicht. Noch ein Neinsager mehr.