Als Ende Dezember 2006 äthiopische Kampfjets den Flughafen von Mogadischu bombardieren und bald darauf Bodentruppen aus dem Nachbarland in Somalia einmarschieren, erregt das die so genannte Staatengemeinschaft nicht über Gebühr. Niemand kommt auf die Idee, den Angreifer einen Aggressor zu nennen. Premier Meles Zenawi erklärt in Addis Abeba, er stehe im „offenen Krieg“ mit der Union der Islamischen Gerichte (UIC) in Somalia, die dort als muslimischer Kampfverband nach der Macht greife. Folglich trägt der Eroberer Äthiopien nach dem geltenden Verständnis im Westen nicht das Stigma des Rechtsbrechers, sondern die Insignien eines Kämpfers gegen den Islamismus in Ostafrika. Und überhaupt. Setzen die äthiopischen Soldaten ihren Fuß nicht auf den Boden eines Staates, der es verwirkt hat, ein solcher zu sein?
Tatsächlich war von der Republik Somalia im Jahre 1991, nach der Vertreibung des autokratischen Präsidenten Siad Barre, nicht mehr als ein Scherbenhaufen geblieben, auf dem verfeindete Clans in völliger Schmerzunfähigkeit einen Veitstanz der Anarchie veranstalteten. Somalia zerfiel, seine höchsten Autoritäten waren den vielen kleinen Gewalten gewichen. Ein gefallener, „gescheiterter Staat“, der sich ins Welt-Siechenhaus verbannt sah.
Failed States gehören, seit der Begriff vor fast 20 Jahren aufkam, nicht zur Nomenklatura der Regionen und Kontinente, haben das Zeug zum „Schurkenstaat“, rangieren noch hinter Bananen-Republiken und können ungerührt erobert werden, was in Sachen Somalia nicht erst Ende 2006 geschah. Bevor dort die Äthiopier kamen, waren schon andere gekommen und hatten sich umgetan.
Ordnung für die Staatsruine
Zur Erinnerung, Somalia wird zwar Anfang der neunziger Jahre als unregierbar eingestuft, aber gerade deshalb zum Experimentierfeld für eine neue Weltordnungspolitik erkoren. Dem Probanden wird immerhin eine UN-Mission (UNOSOM/United Nations Operation in Somalia) verordnet, die das Modell der „humanitären Intervention“ vom theoretischen Exkurs in den praktischen Vollzug überführen soll. Das Unternehmen UNOSOM ist nach Auffassung der Vereinten Nationen unumgänglich, weil Somalia 1992 vor einer Hungerkatastrophe steht und 80 Prozent der geleisteten internationalen Lebensmittelhilfe von Banden geraubt werden. Dass die Verlustrate durch das Internationale Rote Kreuz (IRK) auf lediglich 15 Prozent beziffert wird, interessiert nicht weiter. Der humanitäre Zweck scheint das perfekte Vehikel zu sein, um darin mehr zu transportieren als ein bewaffnetes Geleit für Hilfskonvois.
So beschließt der UN-Sicherheitsrat im April 1992 mit UNOSOM eine Art Testprojekt für eine Intervention neuen Typs, um durch den militärischen Eingriff von außen für Befriedung im Inneren zu sorgen. Mit der geringen Bevölkerungsdichte, dem Fehlen einer Regierung und Armee bietet sich Somalia als ideales Testfeld an. Die Vereinten Nationen riskieren zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein zweigleisiges Verfahren: Der multinationale Eingreifverband UNITAF unter dem militärischen Kommando der USA soll nicht nur Frieden wahren (peace keeping), sondern notfalls auch mit Waffengewalt erzwingen (peace making) und sich damit der somalischen Staatsruine als Ordnungsmacht vom Dienst empfehlen. Auch der damalige US-Präsident Bush senior will zweigleisig fahren und meint: Wenn die US-Armee schon in Somalia unterwegs sei, könne sie nicht nur Hilfsgüter eskortieren, dann müsse sie auch demokratische Kultur exportieren. Also Befriedung im Inneren durch Militärmacht plus Wertetransfer von außen. Wie sich zeigen soll, der gelungene Einstieg in einen Bürgerkrieg. Denn die somalischen Milizen und ihre Führer nehmen die Herausforderung gern an, besonders der mächtigste unter ihnen, Mohammed Farah Aidid. Nachdem am 3. Oktober 1993 eine US-Eliteeinheit in einem Hinterhalt aufgerieben und die Leichen ihrer Soldaten durch Mogadischu geschleift werden – vor den Kameras von CNN, CBS und ABC – hat der hehre Missionarismus freilich ausgesorgt. Man könnte natürlich auf die Kriegserklärung des Warlords Aidid entsprechend reagieren. Aber auf ein beinhartes Besatzungsregime, ein aggressiv durchgesetztes Gewaltmonopol und vermutlich beträchtliche Opfer in den eigenen Reihen wollen sich die Kreuzfahrer am Horn von Afrika dann doch nicht einlassen.
Nach einer Schamfrist bis zum März 1994 verschwindet die UNO aus Somalia, das Experiment ist abgeblasen, weil fehlgeschlagen. Das neue Modell „Good Governance for Failed States“ hat sich als Himmelfahrtskommando erwiesen – zu gefährlich, zu unkalkulierbar, zu tödlich. Man hat den „gescheiterten Staat“ Somalia zum Protektorat degradiert, um ihn irgendwann als funktionierenden Staat reaktivieren zu können. Doch den Probanden fehlt der Glaube, wann und ob sie dieser Fremdbestimmung je wieder entkommen.
Fluch der Wiederholungstäter
Nach dem Somalia-Debakel wird in den USA immer wieder beteuert, die somalische Lektion gelernt zu haben. Bis zum Beweis des Gegenteils: Heute sind das US-Protektorat Irak, das NATO-Protektorat Afghanistan und das EU-Protektorat Kosovo neue gefährliche Klone eines ausschweifenden Kreuzfahrertums. Sie offenbaren ein ungeschriebenes Gesetz der geltenden Weltordnung: Imperiale Staaten wie die USA oder Militärkoalitionen wie die NATO führen ihre Kriege, wenn sie haushoch überlegen sind. Danach geraten sie als Besatzungsmacht in Konflikte, die sich nur durchstehen lassen, wenn der Krieg fortgeführt und der geschlagene wie ein „gescheiterter Staat“ behandelt wird. Womit sich die Weltordnung als Weltunordnung erweist, weil sie derartige Staaten produziert.
Somalia bleibt 1994, nach dem Abzug der letzten UNOSOM-Verbände, wieder sich selbst überlassen, seinen Milizen, blutigen Fehden, verfeindeten Sippen. Der „gescheiterte Staat“ als aufgegebenes Mündel einer gescheiterten Weltgemeinde. Was darauf folgt, ist schnell erzählt. Mohammed Aidid schrumpft nach dem Exit von UNOSOM vom Widersacher des Imperiums wieder auf das Normalmaß eines Warlords im Großraum Modadischu. Er besitzt weder den Willen noch die Statur, den Staat zu erneuern, lässt sich aber im Juni 1995 zum Interimspräsidenten ausrufen und stirbt im Jahr darauf nach einem Attentat.
Heute versteht sich die äthiopische Armee als Ordnungsmacht, muss aber das Schlimmste befürchten, wenn sie über Mogadischu hinaus zu operieren sucht. Auf das ganze Land bezogen, herrscht ein militärisches Patt mit den Milizen der Union der Islamischen Gerichte (UIC). Doch besitzt Addis Abeba die Rückendeckung der USA und den stillschweigenden Beistand
Kenias. Erwehren muss sich der Eroberer nur des Intimfeindes Eritrea, der Tuchfühlung mit den UIC-Milizionären hält.
Es gibt zwischenzeitlich in Somalia eine Generation junger Männer, die noch nie einen intakten Staat oder eine intakte Regierung, geschweige denn ein intaktes Gemeinwesen erlebt haben. Sie kennen keine Hemmungen, sich Aufständen anzuschließen oder eben in den Küstenregionen der Freibeuterei zu verfallen. Das Überleben in einem „gescheiterten Staat“ kann logischerweise keinen Gesetzen folgen (wo sollten die herkommen?) – es kennt nur die eigenen.
Somalias Scheitern eine Chronik
1991 Stunde Null
Mit dem Sturz von Präsident Siad Barre zerfällt der somalische Staat. Milizen und Clans teilen Pfründe und Regionen untereinander auf. Als Reaktion auf diese Erosion erklärt die Nordprovinz Somaliland ihre Unabhängigkeit. Somalia hatte sich bis in die frühen achtziger Jahre hinein auf einen sozialistischen Entwicklungsweg konzentriert. Siad Barre regierte mit der Somalischen Revolutionären Sozialistischen Partei (SRSP) als der einzigen legalen Formation im Land.
1992/93 Exit statt Eskorte
Die Mission UNOSOM soll humanitären Helfern bei der Versorgung von Hungerregionen militärische Geleit geben, wird aber durch eigenes Verschulden in den somalischen Bürgerkrieg verstrickt. Die Vereinten Nationen ziehen nach einem Jahr ihr Hauptkorps es besteht größtenteils aus amerikanischen, indischen und pakistanischen Soldaten wieder ab.
2004 Mandat ohne Macht
Auf einer Versöhnungskonferenz in Kenia wird Abdullah Yusuf zum Übergangspräsidenten Somalias gewählt. Es gelingt ihm jedoch nicht, eine Gegenmacht zu den Warlords aufzubauen, die ich noch immer nach Clan-Loyalitäten organisieren und eine Rückkehr zu intakten staatlichen Strukturen verhindern.
2006 Schritt vom Weg
Die Union Islamischer Gerichte (UIC) gewinnt an Macht und Einfluss. Ende 2006 reagiert Äthiopien darauf mit einer Intervention, für die es trotz der desolaten Lage Somalias keine rechtliche Basis gibt. Die UIC-Milizen lassen sich von der äthiopischen Armee auf Dauer nur aus Mogadischu verdrängen. Mit den Eindringlingen verbündet sind Soldaten des Präsidenten Yusuf aus Puntland im Norden.
2008 Patt mit al-Qaida
Somalia lebt mehr denn je zwischen Hammer und Amboss, nämlich zwischen der äthiopischen Besatzungsarmee, die den Präsidenten Yusuf im Amt hält, und den islamistischen Verbänden. Die werden aus Eritrea versorgt und von al-Qaida ideologisch betreut.
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