Der Freitag: Erleben wir derzeit im Iran einen Kulturkampf, bei dem es um Geschwindigkeiten einer Modernisierung innerhalb des Islam geht?
: Es ist mehr, was wir sehen und beobachten. Genau genommen handelt es sich um die Fortsetzung der Islamischen Revolution von 1979. Damals wurde nach dem Sturz der Monarchie die Islamische Republik gegründet, die tatsächlich eine Republik sein sollte. Doch wurde daraus mit der Zeit keine islamische, sondern eine islamisch-theokratische Republik, in der ein großer Teil des Volkes als nicht systemtreu ausgeschlossen wurde, während die Herrschaft einem immer kleineren Machtkreis zufiel.
Gehen Sie soweit zu sagen, das ist ein Land mit zwei Völkern und zwei Kulturen?
So ist es. Nach der Islamischen Revolution vor 30 Jahren schwelte ein verdeckter Dauerkonflikt zwischen traditionalistischen und modernen Teilen der Gesellschaft, wie er etwa bei der Wahl des Präsidenten Chatami 1997 zum Ausbruch kam. Jetzt hat sich dieser Konflikt erneut mit voller Wucht entladen, weil der moderne, bisher ausgegrenzte Teil endlich eine wirkliche islamische Republik ohne theokratische Herrschaft haben will.
Ist Mir Hossein Mussawi auch deshalb Galionsfigur dieser Bewegung, weil er aus dem System kommt?
Man kann es vielleicht so ausdrücken, die Authentizität dieses Bereinigungsprozesses hin zu einer echten Republik hängt mit einer Person wie Mussawi zusammen, der im traditionellen Teil des Systems verankert war. Nach 20 Jahren Machtabstinenz und Lernprozess scheint er jene Führungsperson zu sein, die nötig ist. Er kann als Scharnier zwischen dem alten und neuen Teil der Gesellschaft agieren und aus beiden Lagern die Mehrheit des Volkes hinter sich bringen.
Wie muss man sich das Kräfteverhältnis zwischen Anhängern und Gegnern Ahmadinedschads vorstellen?
Vom kulturellen Einfluss her, unter dem die Menschen stehen, sage ich: 80 zu 20 für die republikanische Erneuerung. Wenn man von den auf Waffen beruhenden Machtpotenzialen ausgeht, hat man es mit einem Verhältnis von 70 zu 30 zugunsten des Ahmadenidschad-Lagers zu tun.
Zu Wochenbeginn hat der Wächterrat erklärt, am 12. Juni habe es keine gravierenden Unregelmäßigkeiten bei der Wahl gegeben. Handelt die theokratische Elite nach wie vor einmütig?
Zunächst einmal muss man klar sagen, dass die Wahlergebnisse nicht in den einzelnen Wahlkreisen gefälscht wurden, sondern im Innenministerium. Der Wächterrat kommt nun mit seiner Erklärung zu dem gleichen Urteil über das Wahlergebnis wie schon Ayatollah Chamenei. Er sagt: Es mögen zwar hier und da gewisse Unregelmäßigkeiten vorgekommen sein, aber es kann nicht sein, dass elf Millionen Stimmen gefälscht worden sind.
Elf Millionen Stimmen von wie viel?
Von zirka 42 Millionen abgegebenen Stimmen bei 48 Millionen Wahlberechtigten insgesamt.
Haben auch jüngste Offerten des amerikanischen Präsidenten dazu geführt, dass sich die iranische Gesellschaft polarisiert hat?
Ich gehe davon aus, dass der neue Ton von Obama, wie er besonders bei seiner Rede in Kairo zu hören war, bei sehr vielen Reformern im Iran, die selbst für einen Dialog der Kulturen eintreten wie Ex-Präsident Chatami, auf Zustimmung stößt. Der US-Präsident hat einen entscheidenden Schritt getan, um wegzukommen vom Krieg der Zivilisationen oder Kampf der Kulturen, wie ihn die Bush-Regierung bis zum Erbrechen betrieben hat.
Gibt es zwischen Hardlinern und Reformern eine interne Konkurrenz, wer worüber mit den Amerikanern spricht, wenn es zu einem Dialog kommt?
Das spielt sicher bei Ahmadinedschad eine wichtige Rolle. Bei den Reformern scheint mir dies nicht das Entscheidende zu sein, da sie über genug Legitimation im Inneren verfügen und nicht darauf angewiesen sind, sich durch ein Gespräch auf Augenhöhe mit Medwedjew oder Obama die nötige Absolution zu besorgen.
Aus westeuropäischen Hauptstädten, vorrangig aus Berlin und Paris, gibt es inzwischen recht scharfe Erklärungen gegen die iranische Führung. Wem hilft das – Mussawi oder Ahmadinedschad?
Ich halte diese Reaktionen für eine erneute Gratwanderung zwischen Unkenntnis und blinder Neigung, die Konfrontationspolitik gegen Iran fortzusetzen, die Europa bereits im Schulterschluss mit den Neokonservativen der Ära Bush versucht hat. Dummerweise folgt Frau Merkel Barack Obama gerade dann nicht, wenn sie das unbedingt tun sollte. Stattdessen verlangt sie, es müsse eine Neuauszählung der Stimmen geben. Das fordert aber im Iran kein Reformer – sie wollen eine Neuwahl, keine Neuauszählung. So wird von außen dafür gesorgt, dass iranische Politiker, die wie Parlamentspräsident Ali Laridschani eher zwischen den Fronten stehen, sich die Einmischung von außen verbieten müssen und kaum Spielraum haben, der Reformbewegung Solidarität zu zeigen. Diese Statements von EU-Regierungen schwächen eindeutig die Reformbewegung und stärken die Hardliner.
Navid Kermani hat aber am 22. Juni in der ARD die Weltgemeinschaft zu einer harten Haltung gegen den Iran aufgefordert, weil der inzwischen „faktisch eine Militärdiktatur“ geworden sei.
Ich rate von derart voreiligen Urteilen ab, zumal weiter offen ist, ob die Streitkräfte voll hinter Chamenei und Ahmadinedschad stehen. Auch hält sich die Mehrheit der Geistlichkeit, die in Opposition zu Chamenei steht, immer noch bedeckt. Die Weltgemeinschaft im deutschen Fernsehen aufzufordern, gegen eine vermeintliche Militärdiktatur vorzugehen, halte ich für reichlich naiv und politisch kontraproduktiv.
Gibt es Neuwahlen?
Ich glaube, vor allem Ali Chamenei bleibt nichts anderes übrig. Noch ist es nicht zu spät, darauf einzugehen, die Alternative wäre eine Spaltung innerhalb der Streitkräfte, was bis zum Chaos – vielleicht bis zum Bürgerkrieg – führen kann. Damit würden die religiösen Hardliner ihren gesamten Kredit als politische Kraft verspielen, selbst wenn sie auf diese Weise ein paar Tage länger an der Macht blieben.
Das Gespräch führte Lutz Herden
Mohssen Massarrat, ein gebürtiger Iraner, ist emeritierter Sozialwissenschaftler an der Universität Osnabrück
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