Die Kolonie heißt Schleusenland und liegt in Berlin-Charlottenburg an der Spree-Schleuse. Kürzlich haben sie dort Kaninchen für eine Rasseschau gesucht, aber ausschließlich bei Mitgliedern, die regelmäßig Beiträge zahlen, sagt das schwarze Brett. Jetzt noch haben sie da viele Gärten und schwarze Katzen, die durchs Beerenkraut streifen. Und sogar einen Heinrich Zille aus Gips. Er beschirmt mit seinem Zeichenblock einen Gartenzwerg, der auf Parzelle 351 an eine Froschkönigin geraten ist, die für sein Werben nur ein versteinertes Grinsen übrig hat.
Hält man sich besser an die S-Bahn-Welt hinter dem stillen Leben am Seerosen-Teich? Aber Stille auch dort. Totes Gleis. Gehen wir also noch eine Runde durch die heile Schreberwelt. Durch den Schilderwald, über die Wilhelmstraße und den Potsdamer Platz, an Erdbeeren und Rhabarber vorbei, Zille, Zwerg und Frosch sehen uns nach. Das Gartenlokal ist offen, es bitten Bouletten und Weißbier zu Tisch.
Oh, schönste Abende des Jahres! Die Tage im Mai, lind und zartgrün, sie wogen hin und wogen her. Nur die S-Bahn hinter der Laube tut es nicht, tut keinen Mucks mehr. Kein Zug, der seine Bremsen seufzend ausatmen ließe vor der Spree-Brücke, niemand unterwegs von Jungfernheide nach Siemensstadt. Ein viertel Jahrhundert schon: Keine Einfahrt im Bahnhof Wernerwerk. Kein Rennen und Drängen und "Zurückbleiben bitte!", der Berliner wie immer in Eile, Schichtwechsel bei Siemens - alles vorbei. An der Station Gartenfeld sind die Letzten längst ausgestiegen. Das Bahngebäude ist ein Gartencenter, "Endstation Kakteenzucht". Proletarier, wo seid ihr?
"Wer nie bei Siemens-Schuckert war, bei AEG und Borsig, der kennt des Lebens Jammer nicht, der hat ihn erst noch vor sich." Kapitalismuskritik anno 1910, frei nach "olle Jöthe". Und die Siemens-Leute hatten einst wirklich Grund zu jammern. Keine 100 Jahre ist es her, da liegt jeden Morgen ein zeitraubender Weg zu ihren Kabelwerken und Bürosälen vor ihnen. Wer zu der Zeit von Charlottenburg die Vorortbahn nimmt, kommt nur bis zur Station Jungfernheide und muss zu Fuß über den noch kaum ausgebauten Nonnendamm zur Maloche traben. Oder es geht von Fürstenbrunn mit der Fähre über die Spree. Das kostet Zeit.
1847 hat Werner von Siemens mit einer bescheidenen Telegrafenanstalt begonnen, 1879 auf der Berliner Industrieausstellung die erste Elektrolok der Welt gezeigt, da ist die Firma längst Weltkonzern, beschäftigt 15.000 Leute, braucht Platz und findet ihn weit draußen im Nordwesten, in den lichten Weiten von Grau-Berlin nahe der Jungfernheide. Der Erste Weltkrieg bekommt der Firma gut. Siemens wird Heereslieferant, übersteht später die Inflationszeit fast unbeschadet. Hat 1925 mehr als 25.000 Beschäftigte. "Elektropolis" blüht am Rande der Stadt und es reift der beispiellose Entschluss: Wir bauen unsere eigene S-Bahn von Jungfernheide über Siemensstadt nach Gartenfeld. Einmalig in der Berliner Verkehrsgeschichte. Siemens gibt unter Aufsicht der Reichsbahn den Bauherrn, investiert 15 Millionen Reichsmark, übernimmt mit der Siemens-Bauunion auch gleich den Streckenbau, lässt den Haus-Architekten die Bahnhöfe entwerfen.
Am 18. Dezember 1929 verkehrt der erste Zug. Am 18. September 1980 der letzte.
Plötzlich - aber nicht unerwartet - ist alles vorbei. Reichsbahner aus Berlin (West) haben gerade gegen die Reichbahn-Direktion in Berlin (Ost) gestreikt, weil sie nicht nur eine Mauer, sondern auch die Währung trennt. Es braucht danach keinen Fahrplan mehr, die Strecke wird stillgelegt. Das Beste, das Schnellste - aus der Kurve geraten, aus der Zeit getrieben, adé Siemensbahn. Eine Kröte hat den Frosch verschluckt und der Zwerg am Teich nun viel Zeit. Nahe der Kolonie dümpelt ein grasbewachsener Erdstumpf am Ufer der Spree und ein Brückenstumpf inmitten derselben, wie ein Vogel ohne Flügel, die traurigen Reste der Siemensbahn. Der Fuß des Wanderers rührt im Schotterbett und findet Strelitzien statt Stromschienen. So viele S-Bahn- Strecken kamen in den letzten Jahren wieder zu Strom, zwei dämmern vergessen und ausgeweidet vor sich hin: Die Linie nach Stahnsdorf und der elegante Viadukt durch Berlins einstiges "Elektropolis", ausgerechnet die Siemensbahn.
Ich bestelle noch ein Weißbier, und plötzlich fällt mir Gerdi ein, die Frau, die den Kosenamen durch ihr ganzes Leben tragen musste. Sie hat bei Siemens Radios zusammengeschraubt, Jahr um Jahr, Preußin bis ins Mark. Ich traf sie einst in ihrer winzigen Wohnung inmitten unzähliger Püppchen. Zum Kaffee bot sie mir Pralinen an, sie selbst aß keine aus Angst, es könne doch Alkohol darin sein. Sie war an die 70 damals, seit 20 Jahren trockene Alkoholikerin. Die tiefen Abstürze hatte sie hinter sich. Ihr Mann war "ooch längst übern Jordan". Bei Siemens am Fließband hatte sie "jeschindert wie´t liebe Vieh" und doch sei ihr die Arbeit, behauptete sie, "ans Herze jewachsen". Ihr Mann übrigens nie.
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