Welche zündende Logik. Präsident Poroschenko lässt das Parlament für 30 Tage den Kriegszustand ausrufen und versichert im gleichen Atemzug, dass man natürlich weiter politische Mittel bevorzuge, um den Konflikt mit Russland zu entschärfen. Weshalb die martialische Geste, die bei Lichte besehen zum rhetorischen Kraftakt eines Wahlkämpfers schrumpft, der sich drei Monate vor der Präsidentenwahl im März als Warlord inszeniert.
Glaubt man Umfragen, hat Poroschenko bei derzeitigen Zustimmungswerten von zehn Prozent kaum Chancen auf eine Wiederwahl und könnte einer Rivalin wie die Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko weichen müssen, die bei 20 Prozent steht und mit ihrer Plattform „Neuer Kurs für die Ukraine“ aufwartet. Warum in schwerer See mit Russland diesen innenpolitischen Kontext ausblenden, wenn es doch Poroschenko enorm zum Vorteil gereicht, derzeit als Oberpatriot den Oligarchen in den Schatten zu stellen? Und das gerade jetzt.
Ohne den kleinsten Wackler
Im Übrigen: Entlang der Front in der Ostukraine wird täglich mit schwerer Artillerie und Raketen geschossen, und Menschen auf beiden Seiten sterben. Gibt es da für die Kiewer Administration nicht Anlässe zuhauf, um so zu reagieren wie jetzt nach den Geschehnissen in der Meerenge von Kertsch zwischen Schwarzem und Asowschem Meer?
Die Erklärung, warum dort und nicht hier, ist einfach: Die propagandistische Durchschlagskraft des Coups wäre geringer. Im Donbass den Krieger zu geben, wo ohnehin Krieg geführt wird, das verpufft. In den Gewässern vor der Halbinsel Krim hingegen findet sich der Dauerkonflikt zwischen Kiew und Moskau in ein entschieden grelleres Licht getaucht als durch den Stellungskrieg in der Ostukraine.
Die Virulenz der Zuspitzung kommt ebenfalls zu ihrem Recht. Die direkten Konfliktparteien wie externen Konfliktpaten können sich nach Herzenslust herausgefordert fühlen und Kante zeigen. Es ist bezeichnend und beunruhigend zugleich, wie prompt und ohne den kleinsten Wackler jeder dem Part gerecht wird, dem er sich schuldig glaubt.
Die NATO erweckt den Eindruck, als sei die Ukraine bereits ihr Mitglied, dem Beistand gebührt. Generalsekretär Stoltenberg nutzt den Abgrund zwischen Kiew und Moskau, um in der Feindschaft mit Russland zu verharren und die Aufrüstungsagenda der Allianz zu legitimieren. Die EU gibt zu verstehen, dass sie sich in ihrer Sanktionspolitik, die seit fünf Jahren den Ukraine-Konflikt anheizt statt entschärft, vollauf bestätigt fühlt.
Der übliche Grabenkampf
Und die deutsche Kanzlerin versichert Poroschenko ihrer anhänglichen Fürsorge, wie sie dies schon beim letzten Kiew-Besuch Anfang November hielt und damit so gar nichts voranbrachte. Bestenfalls wurden Poroschenkos Aussichten beim Präsidentenvotum durch deutsche Fürsprache beinflusst. Wie? Das weiß man nicht.
Wenigstens hat Merkel nach dem Zwischenfall vor Kertsch auch mit dem russischen Präsidenten telefoniert, der ungerührt auf seiner Lesart besteht: Zu beiden Seiten der umstrittenen Meerenge befinde sich russisches Hoheitsgebiet, folglich sei es das Gewässer dazwischen auch. Daraus resultiere das Recht, Schiffe zu kontrollieren, zumal solche, die in militärischem Auftrag unterwegs sind.
Schließlich findet auch im UN-Sicherheitsrat der gewohnte Grabenkampf statt, ohne dass daraus ein Ansatz zur Vermittlung entsteht. Was nach Diplomatie aussieht, ist keine. Es geschieht das Erwartbare und Naheliegende, um einen Konflikt zu konservieren und auszukosten, dessen politischer Gebrauchswert für alle Beteiligten wie eine nach oben offene Eskalationsskala über jeden Zweifel erhaben ist. Wo der Wille zur Verständigung fehlt, findet sich logischerweise auch kein Weg, danach zu suchen.
Ihn einschlagen zu wollen, das könnte im Augenblick nur eines heißen: Losgelöst von der Statusdebatte um die Krim über verifizierbare Regeln für die internationale Schifffahrt durch eine Meerenge zu verhandeln. Der Verweis darauf, es sei seit 2003 zwischen Russland und der Ukraine ein Vertrag über ein gemeinsam zu nutzendes Territorialgewässer ausgehandelt, ist realpolitisch ohne Sinn.
Stadium der Unlösbarkeit
Er abstrahiert davon, dass beide Staaten seit 2014 einen permanenten Vorkriegszustand aufrechterhalten, der Vertragsverstöße einschließt. Augenblicklich gibt es für diesen nicht etwa eingefrorenen, sondern stetig schwelenden und – wie sich gerade zeigt – ausufernden Konflikt keinen Mediator irgendwo. Wer ist unbelastet und aller Parteilichkeit unverdächtig, um mit einiger Aussicht auf Erfolg in Aktion treten zu können? Niemand, nicht einmal die OSZE, schon gar nicht die Vereinten Nationen. Was folgt daraus? Nicht allein die Erkenntnis, dass ein Konflikt bis auf weiteres im Stadium der Unlösbarkeit verharrt. Weltweit dominieren parallel dazu Unvermögen und Unwille, dies zu ändern.
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