Ein Zweig am Baum

Januar 1933 Sechs Tage vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler wird in Berlin ein Jüdisches Museum eröffnet und zu einem Ort des geistigen Widerstandes gegen die Verfolgung
Oft kamen jüdische Schüler, die in kein anderes Museum mehr durften
Oft kamen jüdische Schüler, die in kein anderes Museum mehr durften

Foto: Abraham Pisarek

Zum Heldengedenktag am 13. März 1938 soll alles noch einmal so sein, wie es immer war. Der kleine Zug des Bundes Jüdischer Frontsoldaten erreicht gegen 11 Uhr den Friedhof Weißensee. Oberkantor Leo Gollanin steht vor der großen Trauerhalle, singt das El mole rachamin und spricht das Kaddisch, das Totengebet. Köpfe und Fahnen senken sich. Jüdischen Deutschen, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind, gilt die Zeremonie am „Stillen Ort“ im Norden Berlins. Es wird daran erinnert – die hier oder an der Marne oder in der Bukowina Bestatteten starben für ein Vaterland, dem sie sich zugehörig fühlten. Nicht als Zweig am Rande des Blattes. Ein Zweig am Baum wollten sie sein.

Seit 1919 bereits marschieren jüdische Kriegsveteranen ein Jahr ums andere die Lothringer-Straße zum Friedhof hinauf. Auch nach dem 30. Januar 1933. Es soll ein Bekenntnis zu ihrem Deutschtum sein. Stolz und Trotz, Hoffnung und Illusion gegen die Verbannung. Doch die ausgestreckte Hand greift ins Leere. Es wird am Heldengedenktag 1938 die letzte Prozession gewesen sein. Noch im gleichen Jahr, nach dem antijüdischen Pogrom vom 9. November, wird das Gedenken verboten und geht verloren für alle Zeit.

Dann ist es still

Doch der Wille, sich nicht abzufinden mit Boykott und Hass, motiviert nicht nur die alten Frontsoldaten. Dieser Mut lebt auch anderswo in Berlin. Und soll auch anderswo gebrochen werden. Als in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 Synagogen und Menschen brennen, stürmt ein SA-Trupp das Haus in der Oranienburger Straße 31, das direkt an die Neue Synagoge grenzt. Die Männer brechen in die Räume des Jüdischen Museums ein. Türe werden aufgestoßen, Schränke und Vitrinen aufgebrochen, Skulpturen aus der Verankerung und Gemälde von den Wänden gerissen. Dann ist es still.

Am nächsten Morgen – Brandgeruch liegt in der Luft, aber das Gotteshaus nebenan ist durch das beherzte Einschreiten des Hauptmanns Wilhelm Grützfeld vom Polizeirevier 16 nur leicht beschädigt – stehen die Mitarbeiter des Museums vor versiegelter Pforte. Es bleibt ihnen verwehrt, wenigstens ein Verzeichnis des geraubten Inventars anzulegen, das der NS-Staat bald auf Auktionen im Ausland versteigern lässt, um Devisenbestände aufzustocken: Gemälde von Max Liebermann und Lesser Ury, Plastiken von Arnold Zadikow (der das Jahr 1943 in Theresienstadt nicht überleben wird), Judaica wie Gebetsriemen, Tora-Vorhänge oder Chanukka-Leuchter. Und noch so vieles mehr, das erzählen konnte von der jüdischen Geschichte Berlins, die einst begann, als die Edikte des Großen Kurfürsten 1671 wohlhabenden jüdischen Familien ein Wohnrecht in Preußen gaben. Das vom Dreißigjährigen Krieg gezeichnete Land lag danieder und brauchte Geld. Willkommen war ein frischer Zweig am kahlen Baum.

Doch zurück zum November 1938. Als das Jüdische Museum „vorübergehend geschlossen“ wird, ist „für immer“ gemeint. Eingeweiht am 24. Januar 1933 – sechs Tage vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler – hat dieser Ort keine sechs Jahre existiert. Dass seinerzeit beide Ereignisse – die Weihe einer solchen Kulturstätte und der Aufstieg eines fanatischen Antisemiten – dicht beieinanderliegen, entbehrt jeder Absicht, so beziehungsreich der Vorgang auch ist.

Schon im November 1932 soll das Museum eröffnen. Nur ist der letzte Pinselstrich für ein Selbstporträt Max Liebermanns, das der Künstler dem neuen Haus schenken will, noch nicht getan. Das Gemälde hängt später im Foyer. Die Ehrengäste können es sehen, als am Einweihungstag ein erster Rundgang beginnt. Die Eröffnungsfeier verläuft alles andere als unbeschwert. Zwar lässt sich noch niemand verleugnen – zu den Ehrengästen zählen die Direktoren der Staatlichen Museen und des Kupferstichkabinetts wie Gesandte der Stadt Berlin –, aber es liegt eine Vorahnung über der honorigen Gesellschaft. Ein bestimmtes Gefühl, dass die Welt, in der dieses Institut entstanden ist, sich bald auflösen und verschwinden könnte, als werde die Luft zum Atmen von irgendwoher unwiderruflich abgesaugt.

Was freilich nichts daran ändert, dass für Karl Schwarz, den ersten Direktor, an diesem 24. Januar 1933 ein Traum in Erfüllung geht. Über ein Jahrzehnt lang hat er sich nicht in seinem Vorhaben beirren lassen, jüdische Kulturgüter an einem Ort zusammenzuführen. Er hat getan, was die Finanzen der Jüdischen Gemeinde zuließen, um Gemälde und Skulpturen nach Berlin zurückzuholen, die während der Inflationsjahre von ihren Eigentümern ins Ausland verkauft worden waren. So manches Mal muss Schwarz dabei erklären, was überhaupt als jüdische Kunst zu gelten hat. Das Œuvre jüdischer Künstler allein? Oder ist das Sujet entscheidend? Die Darstellung jüdischen Lebens, auch wenn der Schöpfer eines Aquarells oder Stilllebens nicht mosaischen Glaubens ist? Sicher sein darf man sich nur bei Sakralbauten wie Synagogen oder Kultgegenständen, den Judaica eben. Weil sie um die Unschärfe des Begriffs wissen, erliegen die Kuratoren des Museumsprojektes weder konfessioneller Separation noch dem Drang nach emphatisch betonter Exklusivität.

Auf skurrile Weise verflochten

Derartiges verbietet sich schon deshalb, weil die Sammlung von Moritz Stern, des Direktors der jüdischen Gemeindebibliothek, die den Grundstock des Museums bilden soll, höchst universell ausfällt. Sie umfasst das Erbe des Berliner Kunstmäzens Salli Kirchstein wie die Schätze des Dresdner Juweliers Albert Wolf. Beide haben antike jüdische Münzen ebenso gesammelt wie Petschafte deutscher Fürstenhäuser oder Gemälde von Lovis Corinth und Max Liebermann. „Ein Jüdisches Museum kann für den Zusammenhalt unserer eigenen Menschen von unschätzbarem Wert sein. Es müsste aber gleichzeitig die Einstellung der Nichtjuden zum Judentum wesentlich beeinflussen können, da ja die mangelnde Kenntnis jüdischen Lebens eines der stärksten Motive der antijüdischen Haltung war und ist“, schreibt Salli Kirchstein 1928 im Jüdischen Jahrbuch für Großberlin. In diesem Sinne will auch der Jüdische Museumsverein wirken, der am 28. November 1929 im Hotel Kaiserhof am Wilhelmsplatz eine erste Satzung des künftigen Museums beschließt.

Wieder sind die Geschehnisse auf skurrile Weise verflochten. In diesem Hotel mietet die NSDAP Ende 1932 eine Suite für Hitler, der hier vorübergehend sein Berliner Hauptquartier aufschlägt. Am 30. Januar 1933 verlässt der Naziführer am späten Vormittag den Kaiserhof und fährt mit einer schweren Limousine die gut 200 Meter bis zur Wilhelmstraße 73, zum Reichspräsidentenpalais, wo ihn Paul von Hindenburg zum Termin erwartet. Danach „sind in Deutschland die Würfel gefallen“, wie Hitler triumphiert.

Dennoch folgt zwischen 1933 und 1938 im Jüdischen Museum eine Exposition der anderen, als wüssten die Mitarbeiter, wie knapp die Zeit werden kann. Im April 1934 beginnt die Spiro-Meidner-Ausstellung, Ende 1934 abgelöst durch eine Porträt-Sammlung, im Mai 1935 öffnet die Frühjahrsausstellung, im September 1935 eine Ephraim-Moses-Lilien-Schau, im Februar 1936 folgen Max-Liebermann-Gedächtnistage, im März 1938 werden in zwei Sälen Judaica gezeigt ...

Während draußen fast ein ganzes Volk unter Nazistandarten marschiert, wird die Oranienburger Straße 31 zu einem Ort des geistigen Widerstandes und der Ermutigung. Ein Baum, der sich seiner eigenen Wurzeln sicher sein kann. Es gibt keinen Rückzug ins Getto. Es gibt ihn weder im Jüdischen Museum noch bei den Frontveteranen in Weißensee noch im Jüdischen Kulturbund, der ab 1933 geächteten Schauspielern, Kabarettisten und Musikern Arbeit gibt und Auftritte ermöglicht – Lebenswillen gegen Verzweiflung setzt. Sie alle tun das Nötige, um als zum Untergang Verurteilte nicht unterzugehen. Wer heute begreifen will, was dabei zu leisten und durchzustehen war, sollte sein Wissen über den Lauf der Geschichte ausblenden. Die jüdischen Mitbürger damals handelten nicht unter dem Eindruck von Geschichte, sondern der Zeit, in die sie geraten waren.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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