Wer hat in den vergangenen Tagen gegen wen in der Ostukraine gekämpft? Schwer zu sagen. Gibt es Veranlassung, den Aussagen des ukrainischen Präsidenten Glauben zu schenken, wenn er von Aggression und dem Einmarsch russischer Truppen redet. Dass es diese Vorwürfe gibt, damit war zu rechnen, falls die eigene Armee Terrain verliert und in die Defensive gerät. Und das gar sie seit dem Treffen Putin-Poroschenko in Minsk.
Ohnehin ist Poroschenkos militärische Expertise nicht über jeden Zweifel erhaben. Des öfteren schon hat er verkündet, es seien nur noch Tage bis die Aufständischen im Osten geschlagen seien. Man stehe vor der Einnahme von Lugansk und Donezk. Dass dabei eine beachtliche Überschätzung des eigenen Militärpotenzials im Spiel war, lässt sich kaum leugnen. Der Staatschef selbst rügt inzwischen das Oberkommando in Kiew. Die Freiwilligen- und Reservistenverbände der Territorialverteidigung im Raum Mariupol und Ilowaisk südöstlich von Donezk seien nicht adäquat ausgerüstet. Auch Soldatenmütter protestieren, Teile des Equipments wie Schuhe und Helme sollen durch Sammlungen in der Bevölkerung an die kämpfenden Verbände gegangen sein.
Wie auch immer sich Russland engagiert – sei es durch einen Waffen- und Munitionstransfer, durch Freiwillige und Ausbilder, Propaganda und humanitäre Hilfe – man kann in der gegebenen Situation nicht ernsthaft erwarten, dass eine russische Regierung tatenlos zusieht, wenn im Donbass Großstädte und deren vorwiegend russische Bevölkerung mit schwerer Artillerie zusammengeschossen und eingekreist werden.
Entscheidender jedoch ist Folgendes: Petro Poroschenko und seine Paten im Westen haben entweder übersehen, ignoriert oder unterschätzt, dass Russland längst über das Stadium hinaus ist, sich durch die Ukraine-Krise in die Defensive treiben zu lassen und eine Rückkehr zum Status quo anzustreben, wie er mit der Janukowytsch-Administration gegeben war.
Überaus heikle Frage
Der Konflikt hat eine Phase erreicht, in der Moskau ungerührt die von den Amerikanern dominierte, von der NATO militärisch und von EU ökonomisch abgesicherte postpolare Ordnung Europas herausfordert und Defizite ihrer Machtprojektion aufdeckt. Es werden Konsequenzen eines von außen forcierten Machtwechsels in Kiew deutlich. Einige EU-Regierungen dürften erschrocken registrieren, worauf sie sich eingelassen haben. Man sieht sich einer Kraftprobe mit Russland ausgesetzt, aus der es keinen Ausweg gibt, wenn der in einer Selbstaufgabe der Aufständischen oder einem Zurückweichen Moskaus bestehen soll.
Diesen Konflikt beherrscht nun die überaus heikle Frage, kann der Westen durchsetzen, dass eine pro-westliche Regierung gegen die Interessen der Ostukraine und Russlands installiert und gehalten wird? Wenn ja, wie und zu welchem Preis? Russland schraubt ihn hoch, auch wenn dadurch irreversible Schäden für das seit 1990 entstandene Ost-West-Gefüge entstehen. Putin weiß, dass die NATO wegen eines Fanatikers wie des ukrainischen Premiers Jazenjuk nicht den großen Krieg riskieren wird. Und die NATO weiß das eben auch.
Es fällt auf, wie deutsche Politiker bis hin zu Kanzlerin Merkel kurz vor dem Bündnis-Gipfel in Wales insistieren, dass es nur eine politische, keine militärische Lösung geben könne. Waffenlieferungen werden ausgeschlossen. Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, mahnt im Welt-Interview, die NATO solle maßhalten, es liegt keine „Bedrohung eines NATO-Landes durch Russland vor."
Bisher wurde gemutmaßt, Präsident Wladimir Putin habe keinen Masterplan für den Umgang mit der Ukraine. Das Muster Krim verbiete sich für den Donbass. Sollte es anders kommen, werde Russland weltpolitischer Ächtung verfallen und das total. Wer sagt eigentlich, dass es Moskau um die Ukraine als Objekt der Begierde geht? Deren Zustand taugt viel mehr zum Präzedenzfall, um dem Westen vor Augen zu halten, was passieren kann, wenn er Hegemonie in diesem Teil Osteuropas ebenso durchsetzen will wie in Nordafrika (Libyen), im Nahen Osten (Irak) oder in Mittelasien (Afghanistan). Weltordnungs- und Statusfragen sind mit diesem Konflikt unlösbar verbunden, besser: verschweißt.
Schwer zu verstehen
Man kann Russlands Präsidenten von Boris Jelzin über Wladimir Putin bis zu Dmitri Medwedjew nicht ernsthaft unterstellen, nach 1990 West-Integration verweigert zu haben. Allerdings wollten sie dabei nie auf das Bedürfnis verzichten, als Großmacht behandelt zu werden. Ein Status, wie er der Russischen Föderation dank ihrer Geschichte, Größe und Ressourcen, aber auch internationalen Verpflichtungen bis hin zur ständigen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat nicht ernsthaft bestritten werden kann. Freilich ging das Vertrauen in die Bereitschaft des Westens, dies anzuerkennen, lange vor dem Ukraine-Konflikt immer mehr zurück. Zunächst gegenüber den USA, dann gegenüber der Europäischen Union und deren Führungsmacht Deutschland.
Mehrfach hat der Kreml sein Unverständnis über die Motive des Westens zum Ausdruck gebracht, von Afghanistan, über den Irak und Libyen, bis zu Mali und Gaza (Israel ist in dieser Hinsicht Teil des Westens) zu intervenieren und eine längst nicht mehr beherrschbare Bürgerkriegszone von Nordafrika bis Mittelasien zu schaffen. Für Wladimir Putin war da nicht nur Zynismus im Spiel. Ihn befremdete die kaum zu überbietende Irrationalität einer Politik, die sich erkennbar gegen die Verursacher richtete. Katastrophaler als in Afghanistan und derzeit im Irak kann die Bilanz des westlichen „Demokratie-Exports“ kaum sein. Dass auch die Ukraine dem unterworfen wird, überforderte möglicherweise die Vorstellungskraft der russischen Führung. Um so entschiedener die Reaktion, seit der putschartige Janukowytsch-Sturz in Kiew über die Bühne ging.
Globaler Rückhalt
Doch irrt, wer glaubt, aus Russland sei dadurch ein international isolierter Staat geworden, der mit dem Rücken zur Wand steht. Erst am 16. Juli hat Wladimir Putin im brasilianischen Fortaleza zusammen mit den Staatschefs der anderen BRICS-Staaten Brasilien, China, Indien und Südafrika diesem Staaten-Verbund ein finanzielles Rückgrat verschafft. Gegründet wurden die BRICS-Entwicklungsbank mit Sitz in Shanghai und ein Contigent Reserve Arrangement (CRA), ein dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vergleichbarer Kapitalstock mit zunächst 100 Milliarden Dollar an Einlage. Der CRA ist zur Kreditvergabe ebenso autorisiert, wie er die Währungsstabilität der BRICS-Staaten garantieren soll. Wenn sich China an solchen Strukturen beteiligt und mit 41 Milliarden Dollar größter Einleger des Fonds ist, wird kein symbolischer Akt zelebriert, sondern ein Konkurrenzunternehmen installiert, um die Dominanz Europas und der USA auf den Kapitalmärkten einzuhegen. Das kann die Wirksamkeit finanzieller Restriktionen der EU gegen Russland tangieren.
In ähnlicher Weise bietet die Shanghai Cooperation Organization (SCO/kurz Shanghai-Gruppe) einigen Rückhalt. Diese Staatenassoziation mit China, Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan und Kirgisistan dient Moskau als Instrument seiner Sicherheitspolitik, als Plattform für Allianzen und Anlass für gemeinsame Manöver etwa mit der chinesischen Volksbefreiungsarmee. Dass der Iran seit Jahren einen SCO-Beobachterstatus beansprucht, ist im Kontext des Ukraine-Konflikts durchaus von Belang, da die Islamische Republik zusammen mit Russland mehr als zwei Drittel der globalen Gasreserven kontrolliert. Zuletzt hat die Türkei angedeutet, über einen SCO-Beitritt nachzudenken.
Auf hohem Seil
Es bleibt als Fazit, dass es bisher nicht gelungen ist, die Kiewer Administration von außen so zu stabilisieren, dass der Verlust an Regierungsautorität und ökonomischer Substanz aufgehalten wurde. Auch wenn die EU jetzt erneut an der Sanktionsschraube drehen will, vergeht zunächst einmal Zeit, bis ein Konsens gefunden ist. Die Betreiber derartiger Strafaktionen balancieren überdies auf einem hohen Seil. Sollten sie abstürzen, rauscht die Energieversorgung mehrerer Staaten Westeuropas mit in die Tiefe. Man befindet über weitere Sanktionen nicht auf der Schwelle zum Sommer, sondern vor dem nächsten Winter.
Da sind Vorsicht und Vernunft geboten wie bei der Frage, wie weit der Handelskrieg noch getrieben werden soll. Beratung und Beistand für Kiew sind nur dann sinnvoll, wenn sie dazu führen, dass die Verhandlungen innerhalb der Kontaktgruppe in Minsk möglichst schnell zu einem dauerhaften Waffenstillstand führen und die ukrainische Führung sich darüber im Klaren ist, dass sie oder andere künftig ein Land regieren werden, dessen Osten einen Sonderstatus beansprucht. Schuld daran sind die Vorgeschichte und die Umstände des Janukowytsch-Sturzes Ende Februar, mehr noch die Osterweiterung der NATO seit 1999, die absolut kein Maß finden will.
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