Als die Regierung Äquatorial-Guineas Anfang 1995 ein kleines Truppenkontingent auf die Insel Annabon schickt, um die Menschen dort gegen marodierende Banden zu schützen, sind die Soldaten so schlecht versorgt, dass sie hungern und bald alle Katzen schlachten. Daraufhin vermehren sich die Ratten in Scharen und fressen die Maisernte - das davon schwer getroffene Inselvolk treibt das bis zum Lynchmord an seinen Beschützern. Keinem der nach Liberia verlegten ECOWAS-Soldaten wird Vergleichbares widerfahren. Nachdem sich die USA zu einer gewissen Ko-Finanzierung der Operation durchgerungen haben, dürfte ihnen Katzenfleisch als Truppenproviant erspart bleiben.
Die unglücklichen Soldaten auf Annabon bezeugen dennoch keine einmalige Tragödie, sondern den Zustand etlicher Nationalarmeen Westafrikas, die zerfallen und als Lumpenmilitariat auferstehen. Eingeschworen auf Clans und Chiefs und getrieben von der Sorge, das Fell des Bären - sprich: die letzten Pfründe ihrer erbärmlich ausgelaugten Gesellschaften - könnte verteilt sein, bevor eigenes Überleben gesichert ist. Auch die Elfenbeinküste, Sierra Leone oder die Zentralafrikanische Republik leiden an marodierenden Armeen, die das Opfer maroder Staaten sind.
Untrüglich schlägt mit Liberia wieder einmal die Stunde der gestandenen Afrika-Pessimisten, die den Kontinent gern als ein endloses Horrormärchen beschreiben, dem am besten mit einem Platzverweis aus einer Afrika müden Weltgemeinschaft beizukommen sei. Und ist der nicht längst ausgesprochen? Vier Milliarden Dollar kostet die Amerikaner die Unterwerfung des Irak in nur einem Monat inklusive der gelegentlichen Leichenschau, um zur Strecke gebrachte Feinde zu präsentieren - 100 Millionen brauchte das ECOWAS-Korps, es wurde Monate darum gefeilscht.
"Afrika ist aufgeschreckt, verängstigt und steht vielleicht zum ersten Mal seit Erreichen der Unabhängigkeit am Abgrund", schrieb die senegalesische Schriftstellerin Axelle Kabou vor zwölf Jahren, im Juli 1991. Da hatte es den Genozid von Ruanda mit seinen 500.000 Toten noch nicht gegeben, thronte Marschall Mobutu als tyrannischer Autokrat von Frankreichs Gnaden unangefochten über Zaire, stand Angola an der Schwelle eines Jahrzehnts der Selbstzerfleischung, nahm Somalia gerade seinen Abschied als funktionsfähiger Staat - und wie viel ließe sich noch aufzählen.
Zu einer Zeit, da der Kontinent Anfang der neunziger Jahren aus den Zwängen der Ost-West-Polarität befreit schien, sprach Axelle Kabou - als ob sie ahnte, was kommen sollte - von Afrikas verhängnisvoller Neigung des "Négrisme", sich einer Welt draußen vor der Tür zu entziehen, die sich im Götzendienst am Fortschritt erschöpft und der afrikanischen Kultur so viel Schaden zufügt. Was Kabou als Hochmut der Verweigerung kritisierte, offenbarte sich bei genauerem Hinsehen als logischer Rückzug. Was war am Hang zu Isolation und Selbstaufgabe zu verurteilen? Lag darin nicht eine zwar resignative, aber nicht minder realpolitische Antwort auf den Zustand des Kontinents? Schließlich konnte jeder, der bei seinen Afrika-Analysen nicht Verheißungen, sondern Fakten glaubte, schon damals in den Statistiken des UN-Entwicklungsprogramms UNDP nachlesen, dass die 48 Staaten zwischen Casablanca und Kapstadt im Durchschnitt 40 Jahre brauchen würden, um bei einem Wachstum von zwei Prozent pro Jahr, zu jenem Lebensstandard zurückzukehren, den es im ersten Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit (das Gros der Staaten errang sie 1960/61) gab. Noch 1965 hatten die Ghanaer im Pro-Kopf-Einkommen vor den Südkoreanern gelegen. Als Präsident Clinton 1998 zu seiner ersten großen Afrika-Tour unterwegs war, um eine afrikanisch-amerikanische Freihandelszone zu versprechen, war der UNDP-Report noch unerbittlicher: Ihr braucht ein Wachstum von mindestens vier Prozent, wollt ihr nach 40 bis 50 Jahren (!) sagen können, wir haben die Armut überwunden. Wer unter dieses Limit gerät, hat zwar Wachstum, aber keine Entwicklung.
Warum dann noch der Lebenslüge aufsitzen, Unterentwicklung sei nicht das Lebensgesetz dieses Erdteils? Wozu mehr tun, als den Stillstand im Rückstand zu garantieren? Birgt das vielleicht größere Überlebenschancen als die Jagd nach unerreichbarer Prosperität?
Im vergangenen Jahrzehnt, da viele afrikanische Staaten, gezwungen durch die Sanierungsprogramme von Weltbank und IWF, die Tür nach draußen weit aufstießen und sich mit der Globalisierung einem entgrenzten Modernisierungsdruck aussetzten, zeigte sich bald, dass sie dem nicht gewachsen waren und mit fortschreitender sozialer Erosion dafür bezahlten. Der Zerfall von Staaten und Armeen in Westafrika wäre nicht so radikal, zerfielen nicht mit ihnen die Gesellschaften, denen die Kraft fehlt, sich der Selbstzerstörung zu erwehren. Man denke nur an die verlassenen ländlichen Lebensräume, den Zug der Entwurzelten in die Metropolen und die daraus folgende Verländlichung urbaner Lebenswelten, woran traditionelle und moderne Lebensweisen gleichermaßen zugrunde gehen. Und man fragt sich unwillkürlich, warum eigentlich gehört Terror nicht längst zu den Exportgütern Afrikas? Liegt es nur daran, dass die Warlords in Liberia, Sierra Leone, Somalia oder anderswo mit dem Absatz dieser Ware - dem Terror der Verelendung, dem Terror der Pogrome, dem Terror der Hoffnungslosigkeit - auf den verfügbaren Binnenmärkten zufrieden sein können? Warum macht dieser african way of live bisher im globalen Ranking nicht mehr auf sich aufmerksam? Es mag damit zu tun haben, dass in dieser angeblich immer enger zusammenrückenden Welt auch die toten Winkel immer größer werden, in denen sich die Abgeschriebenen wiederfinden und ergeben ihr Katzenfleisch verzehren - bis sie an dieser Demut krepieren. Es gehört zu den Launen dieses Jahrhunderts, dass uns Afrika selten näher war.
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