Das Ausstiegsszenario für die NATO-Verbände am Hindukusch offenbart einmal mehr seine Tücken. Es entstand aus der Einsicht, den Krieg in Afghanistan möglicherweise noch Jahre führen zu müssen, nicht geschlagen zu werden, aber auch nicht siegen zu können und trotzdem keine Musterdemokratie nach Schweizer Vorbild zu hinterlassen. Nur was dann, wenn man gehen will, weil man gehen sollte, aber nicht sofort gehen kann? Ein überstürzter Abzug käme für die Amerikaner einer Kapitulation gleich und würde fatal an die Heimkehr der Truppen aus Vietnam 1972/73 erinnern. Also ein Zeitfenster bis Ende 2014 aufstoßen und den Eindruck erwecken: Wenn sich das wieder schließt, wird in drei Jahren vieles von dem gelungen sein, was zwischen
hen 2001 und 2012 misslungen ist.Zum Beispiel Hunderttausende von afghanischen Soldaten nicht nur auszubilden, sondern darauf einzuschwören, im eigenen Land ein Mindestmaß an innerer Sicherheit zu garantieren. Ein illusionäres Vorhaben, wie jeder Kenner der Verhältnisse weiß. Genauso illusionär wie die Annahme, die NATO-Alliierten würden sich Ende 2014 aus einem funktionierenden Staat verabschieden. Der von US-Präsident Barack Obama genannte Exit-Termin klammert sich an Versprechen, die nicht erfüllbar sind. Es kann insofern kaum verwundern, wenn Präsident Hamid Karzai die Flucht nach vorn antritt und seinen westlichen Partnern bedeutet, wenn ihr 2014 unverrichteter Dinge geht, warum dann nicht schon früher?Sicher ein taktisches Manöver, um etwas fürs Überleben nach dem „Tag X“ zu tun – aber nicht minder ein Indiz dafür, wie der terminierte Ausstieg zur politischen Spielmasse verkommt, wenn seine Konditionen irreal sind. Genau deshalb werden ja amerikanisch-afghanische Verhandlungen über einen Partnerschaftsvertrag geführt, der eine US-Präsenz über 2014 hinaus regelt. Das hieße gehen, um letzten Endes doch zu bleiben. Für Karzai ist das die sicherste Lösung. Er kann sich Zeit nehmen, sie auszuhandeln, dürfen ihn doch die Amerikaner aus eigenem Interesse weder dominieren noch maßregeln noch als Marionette vorführen. Wie Karzai auf seine Schutzmacht, bleibt die auf ihren Schutzbefohlenen angewiesen. Gibt es für den Rückzug einen Plan B, falls dieser Präsident einem Attentat zum Opfer fällt oder einem Putsch weichen muss? Wer sollte Karzai ersetzen? Vizepräsident Qasim Fahim? Dessen Nähe zur einstigen Nordallianz ist viel zu offensichtlich, als dass sich Stämme und Clans des Mehrheitsvolkes der Paschtunen darauf einlassen würden. Bliebe Ex-Außenminister Abdullah Abdullah, Karzais schärfster Konkurrent während der umstrittenen Präsidentenwahl 2009. Nur würden sich die Paschtunen von einem Tadschiken erst recht nicht regieren lassen.Wie von selbstAus Sicht der US-Regierung gibt es im Augenblick keine annehmbare Alternative zu ihrem Konsul in Kabul, der sich Hoffnungen machen darf, auch nach 2014 an der Macht zu sein, falls genug fremde Militärmacht übrig bleibt. Allerdings verbietet die 2003 verabschiedete Verfassung Karzai eine dritte Amtszeit. Umgehen ließe sich dieses Verdikt nur durch einen Beschluss der Loya Jirga oder eine rechtzeitige Verfassungsinventur.Beides scheint denkbar, sofern sich dieser Präsident wie gewohnt mit regionalen Clans arrangiert. Gelingen könnte das, wenn sein Klientel-System weiter von außen alimentiert wird. Schließlich werden bis heute nur 25 Prozent des afghanischen Staatshaushalts aus eigener Kraft bestritten. Es bedarf daher auch nach 2014 der Spenden einer internationalen Gebergemeinde sowie des konzilianten Umgangs mit einer Drogen- und Schattenwirtschaft, aus der sich die tonangebenden Clans bedienen.Wer wollte bestreiten, dass ein solches System zerfällt, sollten die Profiteure dieser Patronage ihre Pfründe verlieren? Die Taliban müssten dann keine Agreements mit Karzai und seiner Oligarchie mehr suchen. Ihnen fiele das Land wie von selbst in den Schoß, sollten sie auf keine oder wenig militärische Gegenwehr stoßen. Freilich wären die Gottesfürchtigen gut beraten, derartige Geschenke vorerst auszuschlagen, auf eine geteilte Macht zu setzen und Nachkriegsafghanistan ein nach außen hin tolerierbares Antlitz zu geben. Für den Fall, dass sich die Amerikaner einige Militärbasen reservieren, wäre das für eine Zeit des Übergangs die perfekte Lösung. Jeder käme aus seine Kosten – die ausgelaugte Besatzungsmacht wie der ambitionierte Nachbar Pakistan und die Taliban, die ihr islamisches Emirat nicht aufgeben, sondern nur aufschieben müssten. Vermutlich würde auch Hamid Karzai dann noch gebraucht.