Front der Unerbittlichen

Syrien Wenn nach mehr als sieben Jahren Bürgerkrieg endlich an Wiederaufbau gedacht wird, sollten alle erleichtert sein, die sich als Verteidiger von Menschenrechten fühlen
Aus Stadtvierteln wurden Schutthalden
Aus Stadtvierteln wurden Schutthalden

Foto: Mohamad Abazeed / AFP - Getty Images

Man kann der deutschen Ablehnungsfront bestenfalls zugute halten, dass es sie gibt, weil die Summe schockiert. Der Wiederaufbau Syriens wird nach Schätzungen der Vereinten Nationen 250 bis 270 Milliarden Dollar kosten. In etwa der gleichen Höhe liegen Angaben der Regierung in Damaskus, was der russische Präsident bei seinem Treffen mit der deutschen Kanzlerin am Wochenende in Meseberg zum Anlass nahm, den Westen zu einem Beitrag für das gesellschaftliche und ökonomische Überleben Syriens aufzufordern.

Für Außenpolitiker aus der CDU (Jürgen Hardt), der FDP (Alexander Graf Lambsdorff) und von den Grünen (Omid Nouripour) eine ans Unverschämte grenzende Zumutung, die mit strikter Verweigerung quittiert wird. Das war erwartbar und ist zunächst einmal nicht ehrlich, denn natürlich ist Deutschland über seine Beiträge etwa für UNICEF und die Welthungerhilfe an konkreten Hilfsprojekten beteiligt, die in Syrien bereits betrieben werden. Für humanitäre Vorhaben der Vereinten Nationen generell gilt das ebenso. Er erscheint schon bemerkenswert, wenn erklärte Anwälte des syrischen Volkes oder der Not leidenden Menschen in Homs, Idlib oder Aleppo nicht einen Moment innehalten können, bevor sie sich exponieren.

Menschenrechte und Menschenleben

Eines lässt sich kaum bestreiten: Wenn endlich daran gedacht werden kann, Kriegsschäden zu beseitigen, ist das ein Zeichen der Hoffnung und Ermutigung, dass nach über sieben Jahren eines verheerenden Bürgerkrieges Aussichten bestehen, dass die nächsten sieben Jahre anders verlaufen. Wer für Menschenrechte eintritt, sollte die sich abzeichnende Rettung von Menschen begrüßen. Und nach dem eigenen Anteil fragen. Oder sind Menschenrechte und deren Proklamation mehr wert als Menschenleben? Und ist es in einer Region wie dem Nahen Osten, in der das Phänomen des Failed State herumgeistert, nicht von einigem Wert, dass ein Staat wie der syrische absehbar nicht zerfällt und das Schicksal Libyens teilt, sondern im Wesentlichen von seiner Integrität her Bestand haben wird?

Natürlich kann es nicht überraschen, dass man sich im Westen zu dem absehbaren Kriegsausgang zugunsten des Assad-Regimes reserviert verhält. Man ist gescheitert und hat das Ziel, einen Regime Change in Damaskus auszulösen und Baschar al-Assad zu stürzen, nicht erreicht. Ausgerechnet Russland hat das durch sein militärisches und politisches Engagement seit 2015 verhindert – nicht mit einem unilateralen Akt, sondern bald schon in einer Zweckallianz mit dem NATO-Mitglied Türkei sowie Iran.

Eine der Konsequenzen besteht darin, dass in den meisten Waffenstillstandzonen inzwischen eine belastbare Feuerpause herrscht, weil unter russischem Patronat für etwa 2.500 Orte in Syrien Versöhnungsverträge mit Aufständischen geschlossen wurden, die einer allgemeinen Amnestie vertrauen. Man muss an der Anti-Assad-Front des Westens dreierlei verkraften: das vorläufige politische Überleben des syrischen Präsidenten, die Rückkehr Russlands als Großmacht mit geostrategischer Ambition und die nicht zu bestreitende Effizienz der Syrien-Strategie Wladmir Putins.

Von Wunsch- zu Realpolitik

In gewisser Weise wird das respektiert, wenn sich Deutschland und Frankreich nun offenbar bereitfinden, mit Russland und der Türkei in einem „neuen diplomatischen Format“ (Putin-Sprecher Peskow) zu kooperieren – ohne die USA. Bis zum Meseberg-Treffen am 18. August war zudem die Rede davon, Emmanuel Macron und Angela Merkel würden sich am 7. September in Istanbul mit Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan zu einem Syrien-Gipfel treffen. Ob es dazu kommt, scheint offen, ist aber weniger entscheidend als der Umstand, dass Berlin und Paris bei der Syrien-Frage von Wunsch- auf Realpolitik umschwenken

Im Übrigen ist es so legitim wie nachvollziehbar, wenn sich Russlands Präsident an die westlichen Staaten mit dem Appell wendet, beim Wiederaufbau Syriens zu helfen. Wer diesen Krieg geschürt und geführt hat – man denke nur an den Militärschlag der USA, Großbritanniens und Frankreichs im April –, wovon nicht zuletzt islamistische Akteure profitierten, sollte auch für die Folgen aufkommen.

Und warum wird es nicht als Chance begriffen, durch materiellen Beistand auf die Nachkriegsordnung in Syrien Einfluss zu nehmen? Ganz abgesehen davon, dass Syrien-Flüchtlinge zur Rückkehr in ihr Land auffordern kann, wer sich darum kümmert, dass dort wieder erträgliche Lebensverhältnisse einkehren. Sollte es für die Regierung Merkel nicht auch von Belang sein, Aufnahmeländer von Millionen Syrern wie die Türkei, den Libanon und Jordanien zu entlasten, indem man sich um humanitäre und ökonomische Hilfe für Syrien bemüht?

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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