Ein Bündnis betankt sich mit Zukunft, als wollte es allerletzte Fragen nach dem Sinn seiner Existenz ausräumen. Aber hat das die NATO mit der Mission Afghanistan nicht längst getan? Wer dort bald neun Jahre aushält und demnächst die Zeit der sowjetischen Präsenz (Dezember 1979 bis Februar 1989) am gleichen Ort übertreffen dürfte, hat bewiesen, dass er sich in den Kriegen des 21. Jahrhunderts einzurichten versteht, indem er sie führt. Der NATO kann keiner mehr den Kombattanten-Status nehmen, den hat sie sich verdient. Der Verschleiß am Hindukusch bezeugt, wie sie bei der Sache ist.
Die jetzige strategische Innovation wird davon natürlich beeinflusst. Was NATO-Generalsekretär Rasmussen vorlegt, bedient nicht mehr und nicht weniger als eine strategische Triade: Die Allianz will ein handlungsstarkes Bündnis sein, als solches kollektive Atommacht bleiben und ein globaler Vormund werden, dem kein zweites Afghanistan unterläuft. Präventiv und geschlossen soll jeder Bedrohung – vom Cyberwar über den Terrorismus, eine instabile Energie- und Rohstoffversorgung bis zu neuen und vor allem konkurrierenden Nuklearmächten – begegnet werden. Etwa durch ein strategisches Abwehrsystem – um eventuelle Atomangriffe aus Nordkorea abzuwenden, aus Iran oder woher sonst. Wie realistisch derartige Prophetien auch immer sein mögen, hier greift der Geltungsanspruch einer Weltordnungsmacht, die wenig kümmert, dass die Abwehr neuer Bedrohungen alte – existenzielle – Gefahren wie die eines thermonuklearen Konflikts nach Kräften bedient.
Erbmasse von gestern
Man braucht nur zu fragen, wird ein Raketen-Abwehrsystem dazu führen, Europa von amerikanischen Kernwaffen – den so genannten substrategischen Systemen – zu befreien? Außenminister Westerwelle fordert das bekanntlich entschieden und übersieht (ebenso entschieden?), dass von Fogh Rasmussen über Hillary Clinton bis zum Experten-Gremium um Ex-Außenministerin Madeleine Albright ein Axiom als sakrosankt beschworen wird: Solange es auf der Welt Atomwaffen gibt, wird die NATO Atommacht bleiben. Und der nuklearen Abschreckung dienen substrategische Potenziale allemal. Warum bei einer vagen Zukunft – NATO-Raketenabwehrsystem – auf die handfeste nukleare Gegenwart – US-Kernwaffen in Europa – verzichten? So unterschiedlich die in ihrer Qualität auch sein mögen – sie können jederzeit reaktiviert und modernisiert werden. Dies trifft auf die Trident-II-Raketen auf britischen und US-U-Booten ebenso zu wie die etwa 100 von ehemals 325 seegestützten Marschflugkörpern des Typs Tomahawk, die zwar in den USA gelagert, aber im Krisenfall jederzeit mobilisiert werden können. Nicht zu vergessen die 100 bis 200 substrategischen Nuklearbomben der Typen B-61-3 und B-61-4 an Standorten wie Büchel (Deutschland), Kleine Brogel (Belgien), Volkel (Niederlande), Aviano und Ghedi-Torre (Italien) sowie Incirlik (Türkei).
Dieses Potenzial mag militärisch verbraucht und moralisch verschlissen sein – doch es ist weiter existent und damit renovierbar. Die Amerikaner wollen das zumindest bei den Trägersystemen in Betracht ziehen und dürften sich deswegen kaum mit dem deutschen Verteidigungsminister zu Guttenberg überwerfen. Auch der will die Tornados am Standort Büchel beispielsweise bis 2020 halten – und erhalten. Wie kann er das, ohne in diesem Jahrzehnt für eine Modernisierung zu sorgen? Und modernisieren heißt: Nicht abrüsten. Es bleibt der kategorische Imperativ nuklearer Abschreckung, wer Atomwaffen und die dazu gehörenden Trägermittel vorhält, muss dieses Equipment irgendwann abschaffen oder aufrüsten, soll nicht gefährlicher und teurer Schrott in den Depots lagern. Wie verhält es sich mit der rechtlichen Zulässigkeit einer Modernisierung, gemessen an den Vorgaben des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT)?
Phänomen Maginot-Linie
Das nukleare Dispositiv in Europa zu bewahren, verschafft den USA einen begehrten politischen Vorteil: Es stützt ihren Führungsanspruch im Bündnis. Mehr noch – es beschwichtigt die Osteuropäer, die mit der nuklearen Erbmasse des Kalten Krieges etwas anfangen können und wollen, weil diese Arsenale dessen Aura konservieren, gegen die Sowjetunion gerichtet waren und heute gegen Russland gerichtet sein können. Solange sie existieren, wird der von Generalsekretär Rasmussen erwogene Brückenschlag nach Moskau schwerfallen, weil die dortige Regierung den Abbau der substrategischen Systeme als Vorleistung für den Aufbau von gegenseitigem Vertrauen betrachtet. Der im April von der US-Administration vorgelegte Nuclear Posture Review (NPR) gibt Medwedjew und Putin durchaus recht, heißt es doch in diesem Dokument: An der Option eines Einsatzes von Nuklearwaffen müsse festgehalten werden, um „unter extremen Umständen die vitalen Interessen des USA, ihrer Verbündeten (sic!) und Partner zu verteidigen“.
Wer so denkt und plant, wird die „nukleare Teilhabe“ – sprich: US-Kernwaffen in Europa – nicht aufgeben. US-Verteidigungsminister Robert Gates leistete denn auch den Offenbarungseid, als er jüngst auf eine Intervention seines französischen Kollegen Hervé Morin reagierte. Werde mit einer Raketenabwehr quasi durch die Hintertür die nukleare Abschreckung der NATO kassiert, hatte der gefragt. Frankreich müsse dann erst recht an seiner Force de Frappe und deren Autonomie festhalten. Im Übrigen erinnere ihn eine NATO-Raketenabwehr an die Maginot-Linie, die den Franzosen 1940 eine Sicherheit suggeriert habe, die es in Wirklichkeit nie gab. Gates hielt entgegen, er sehe keine wie auch immer geartete Verbindung zwischen einem Abwehrsystem und der nuklearen Abschreckung. Mit anderen Worten, man will das eine und behält das andere.
Barack Obamas Vision von einer Welt ohne Kernwaffen (Global Zero) dürfte sich damit für Generationen erledigt haben. Global Zero heißt nicht Regional Zero. Warum dem Iran verbieten, was sich die NATO zugesteht? Entweder überall und total abrüsten – oder nirgends beziehungsweise nirgends richtig. Die NATO ist gerade dabei, mit ihrem neuen Konzept diese Gewissheit zu bestätigen.
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