Vor 30 Jahren hauchte der Staat DDR sein Leben aus. Alles scheint unausweichlich und folgerichtig. Doch sind die letzten Tage vor dem 3. Oktober 1990 kein stilles Innehalten, sondern bewegt, unberechenbar, teilweise dramatisch. Sie haben es verdient, erinnert zu werden. Mit einer kleinen Serie auf freitag.de wollen wir das versuchen.
Alles muss schnell gehen. Regierungshandeln in der abzuwickelnden DDR steht im September 1990 permanent unter Zeitdruck. Seit klar ist, dass der Sozialismus auf deutschem Boden am 7. Oktober keinen 41. Jahrestag begehen darf und am 3. Oktober der Anschluss an die BRD fällig ist, muss die DDR-Volkskammer dringend den Einigungsvertrag verabschieden.
Doch die Debatte dazu beginnt erst. Am 13. September ist dazu die 35. Tagung der Legislative anberaumt und kommt nicht vom Fleck. Immer wieder gibt es Unterbrechungen, geplante und unvorhergesehene. Unter anderem will Treuhandchef Detlev Carsten Rohwedder im Plenum reden. Die im Einheitsjahr inzwischen auf mehr als 600.000 Menschen gewachsene Zahl der Arbeitslosen im Osten sorgt für Unruhe und Protest. Sie wird besonders seiner Behörde angelastet. Rohwedder nennt das Statement „Bericht in aller Kürze“. Die Kernaussage: Es gäbe durch die Treuhandanstalt keine übereilten Stilllegungen von Betrieben. Von 8.000 ostdeutschen Unternehmen seien gut 7.000 in Aktiengesellschaften und GmbHs umgewandelt. Eine in der Presse veröffentlichte Liste von unweigerlich dem Untergang geweihten Standorten könne er „so nicht bestätigen“, freilich gehe es mit den Privatisierungen „zu langsam voran“.
Die eigene Geschichte
Schließlich ist die Abstimmung über den Einigungsvertrag für den 20. September angesetzt, doch gerät an diesem Tag der Zeitplan vollends durcheinander, als es am Nachmittag erst zu Tumulten im Hohen Haus, bald darauf zur Blockade des Volkskammerpräsidiums kommt. Schauplatz ist nicht mehr der Palast der Republik, den das Parlament wegen seiner Asbestbelastung zu räumen hatte, sondern der nicht minder asbestverdächtige Plenarsaal des einstigen SED-Zentralkomitees am Werderschen Markt.
Dass dort rebelliert wird, hat sich abgezeichnet. Seit Tagen schon sind in der Normannenstraße, im ehemaligen Sitz des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die Bürgerrechtler Reinhard Schult, Ingrid Köppe wie andere Mitglieder des Neuen Forums in einen Hungerstreik getreten. Sie wollen verhindern, dass man den gesicherte Aktenbestand des MfS auseinanderreißt, falls Teile davon dem Bundesnachrichtendienst BND übergeben werden. Es sei dann keine Aufarbeitung, kein verantwortungsvoller Umgang mehr garantiert, befürchten sie.
Wem werden die Akten künftig wozu und wie zugänglich sein? Wie verhält es sich mit dem Daten- und Quellenschutz? Zwar hat die Volkskammer am 24. August mit großer Mehrheit ein Gesetz über den behutsamen Umgang mit den „Unterlagen“ über gut sechs Millionen DDR-Bürger beschlossen, aber anders als versprochen fand das keine Aufnahme in den Einigungsvertrag. Stattdessen gibt es Absichtserklärungen der Regierungen in Bonn und Ostberlin. Ihr Tenor: Missbrauch werde verhindert, auch würden die Akten der Öffentlichkeit nicht entzogen.
Was die Protestierenden bewegt und im September 1990 kurz vor Vollzug der Einheit leider im Hintergrund bleibt, ist das Motiv, Selbstbestimmung und Deutungshoheit über die eigene Geschichte zu wahren. Sie muss dem dominanten Blick des Westens entzogen bleiben. Der Umgang mit den DDR-Sicherheitsakten ist ein DDR-Problem, künftig eines der ostdeutschen Länder, so soll es bleiben.
„Linker Pöbel“
Als Schult und Köppe den Volksvertretern mitteilen wollen, was sie denken, weshalb sie bisher gegebene Versprechen für unzureichend halten, wird ihnen das Mikrofon abgedreht. Das soll wohl heißen: Ihr habt jetzt zu schweigen, ihr hattet eure Zeit vor einem Jahr. Und das mehr als genug. Der Abgeordnete Schreiber von der CDU äußert, er wolle von „linkem Pöbel“ nicht gestört werden, wenn es die „wichtigste Sache“ zu beschließen gelte, die man sich im September 1990 denken könne – den Einigungsvertrag. Das hat er sicher recht. Darin steht, wie die DDR nicht nur aufgelöst, sondern ausgelöscht wird.
Was Schult und Köppe, aber auch Volkskammerabgeordnete von Bündnis 90 wie deren Sprecher Wolfgang Ullmann erfahren, mündet in die Erkenntnis: Jene aufgewühlte Gesellschaft, wie sie im Herbst 1989 erschüttert, herausgefordert und verändert sein wollte, existiert nicht mehr. Die Wendewut ist eingetauscht gegen erneuten Anpassungszwang, Resignation, diffuse Hoffnungen.
Das Land vergiften
Volkskammervizepräsident Reinhard Höppner (SPD) entspannt die Situation im Plenum, als er den aufgebrachten Bürgerrechtlern trotz des unverkennbaren Unbehagens der CDU ein paar Minuten Redezeit gewährt. Reinhard Schult darf sagen: Sollte alles so kommen, wie von der Regierung de Maizière und deren Vormund in Bonn beschlossen, würden die Stasi-Akten zu Gift. Daran werde sich das Land in den nächsten Jahren gründlich vergiften.
Schult soll recht behalten, kann aber nichts ändern. Woran auch die 299 Abgeordneten ihren Anteil haben, die am Abend dieses 20. September für den Einigungsvertrag stimmen und ihn damit durchwinken. Nur die Fraktionen von PDS und Bündnis 90, insgesamt 80 Parlamentarier, lehnen ihn ab. Die DDR hat ausgesorgt.
Der Weg zur Einheit – Vor 30 Jahren
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