Der Taliban-Angriff auf die "Zitadelle von Kabul" – das ähnlich der Grünen Zone von Bagdad gesicherte Diplomaten-Viertel der afghanischen Hauptstadt – ist allemal eine Erinnerung wert. Der gestrige Vorstoß lässt an den 31. Januar 1968 denken, als ein kleines Kommando der südvietnamesischen Befreiungsfront FLN – im Westen Vietcong genannt – die US-Botschaft von Saigon attackierte.
Die galt nicht nur als Hochsicherheitstrakt. Sie lag gleichfalls in einem Distrikt Saigons, das als uneinnehmbar galt. Schon jede Annäherung durch den Gegner schien ausgeschlossen, geschweige denn ein Angriff möglich. Der gelang trotzdem. Und das nicht irgendwann, sondern während des Tet-Festes im "Jahr der Katze". Es geschah mitten im buddhistischen Neujahrsfest, als Ende Januar 1968 überall in Südvietnam Einheiten der Vietcong aus der Deckung kamen, gegen Basen der US-Armee und ihrer südvietnamesischen Verbündeten vorrückten, in Städte wie Saigon, Hue und Da Nang vordrangen und den Beweis ablieferten, welche Moral sie hatten, und wie handlungsfähig sie waren. Sie konnten einen überlegenen Gegner in die Flucht schlagen oder in Abwehrkämpfe zwingen. Später sollte von der "Tet-Offensive" die Rede sein und vom "Monat der nationalen Erhebung". Erstmals schien der Abgrund aufgerissen, in dem die stärkste Militärmacht der Welt mit ihrem Vietnam-Korps versinken sollte. Schon fünf Jahr später, nach dem Pariser Vietnam-Abkommen, war es soweit. Der Abzug begann.
Zweckoptimismus pur
Natürlich hinken derartige Vergleiche. Mit der FLN kämpfte seinerzeit in Südvietnam eine nationalkommunistische Befreiungsfront – in Afghanistan handeln ihrem Glauben größtenteils fanatische ergebene Gotteskrieger, deren Rückkehr zur Macht einen zivilisatorischen Rückschritt sondergleichen bedeutete. So jedenfalls die Annahme, die sich auf das Kalifat bezieht, in das Afghanistan durch die zwischen 1996 und 2001 regierenden Taliban verwandelt wurde.
Derzeit jedoch kämpfen die Taliban um das Ende einer Besatzung und Fremdbestimmung, die ihrem Land den versprochenen inneren Frieden schuldig blieb. Sie zeigen, militärisch handlungsfähig und zu koordiniertem Vorgehen in der Lage zu sein. Hinter der Angriffsserie in Kabul, auf Städte im Osten und Süden darf eine einheitliche Führung vermutet werden. Vielfach mussten ISAF-Verbände in die Kämpfe eingreifen, besonders in der Hauptstadt, was den Eindruck nährt: Das US-dominierte Oberkommando in Afghanistan verbreitet viel Zweckoptimismus, wenn es in seinen Lage-Analysen einen Transitionsprozess beschwört, bei dem alles auf gutem Wege sei, planmäßig und zufriedenstellend verlaufe. 2014 würden die afghanischen Autoritäten das Land soweit kontrollieren, dass die NATO-Alliierten mit dem Gros ihrer Verbände beruhigt abziehen könnten. Augenscheinlich werden da ungedeckte Wechsel auf eine ungewisse Zukunft ausgestellt. Es sollte stutzig machen, wenn das nicht die Regierungen der kriegsbeteiligten NATO-Mächte auffällt, sondern durch militärischen Vorstöße der Taliban sichtbar wird.
Auf der Flucht
Bisher sind alle Verhandlungsversuche mit den Amerikanern im Sande verlaufen. Es kann insofern nicht weiter verwundern, wenn die Taliban der militärischen Option mehr vertrauen als einer politischen Verständigung. Sie geben damit entweder zu verstehen, dass sie nach 2014 ohnehin darauf setzen. Oder es soll jetzt Druck ausgeübt werden, um einen anderen Dialog als den bisher gescheiterten führen zu können. Es sieht nicht danach aus, als ob der wirklich zustande käme. Längst ist die von den Aufständischen im Golfstaat Katar zu Beginn des Jahres eröffnete Vertretung wieder geschlossen, die Kontaktstelle für eine Afghanistan-Diplomatie sein sollte, um einen Minimalkonsens über die Nachkriegsordnung des Landes zu finden. Auch hat mit Abdul Salam Zaeef, 1996 bis 2001 Botschafter der Taliban-Regierung in Pakistan, in der vergangenen Woche einer der wichtigsten Unterhändler Afghanistan fluchtartig verlassen und in den Vereinigten Arabischen Emiraten Asyl gefunden. Zuvor sollen US-Soldaten versucht haben, sein Haus in Kabul zu durchsuchen, was am Widerstand afghanischer Leibwächter scheiterte.
Amrullah Saleh, bis 2010 Chef des afghanischen Geheimdienstes NDS, meint, die Taliban hätten die Hoffnung auf eine Rückkehr an die Macht nicht aufgegeben. Die zurückliegenden 24 Stunden haben eindrucksvoll belegt, wie recht er hat. Wenn das so ist, wozu waren mehr als ein Jahrzehnt Besatzung und mehr als 4.000 gefallene Soldaten aus den NATO-Ländern dann gut? Dies Frage muss jetzt gestellt werden und sollte dazu führen, den Abzug zu beschleunigen.
Um noch einmal an das Jahr 1968 in Südvietnam zu erinnern. Jenes Vietcong-Kommando, das damals US-Botschafter Henry Cabot Lodge in den Bunker der Botschaft zwang, zählte ganze 19 Kämpfer. Keiner davon hat überlebt. Doch setzten sie ein Zeichen, dass den Amerikanern bedeutete, auch wenn sie noch 10 oder 20 Jahre in Indochina blieben, sie würden gegen Moral und Opfersinn ihrer Gegner nur wenig ausrichten können.
Kommentare 6
Die Taliban zeigten sich gestern nicht nur in Afghanistan stark, auch in Pakistan zeigten sie ihre ungebrochene Schlagkraft. Die Taliban sind wahrscheinlich genau so korrupt wie die anderne Warlords. Sie habe aber nicht oder kaum mit den Interventionsarmeen aus dem Westen gemeinsame Sache gemacht. Diese kamen nicht nur, um Brunnen zu graben und Schulen für Mädchne zu bauen. Kaum im Land arbeite(te)n (sie)mit kriminellen Milizenführern zusammen, unterstütz(t)en mafiöse Machthaber und leiste(te)n fundamentalistischen Tendenzen Vorschub..
Ein deutscher Soldat in Afghanistan wusste Bescheid:
"Der Afghanistan-Einsatz hat mich bestärkt, dass hier Dinge einfach auseinanderlaufen, dass diese Armee, wie sie eingesetzt wird, nicht dem entspricht, was den Leuten verkauft wird. Wenn man da nicht mehr dahinter steht, dann hat schon dieses Politische, dieses Missfallen über diese Einsätze überwogen."
Und die Politk wollte nicht genau wissen oder nicht genau sagen, um was es geht. Der "Krieg gegen den Terror" wurde mit terroristischen, der eigenen und angeblichen Wertewelt hohnsprechenden, Mitteln geführt. Weil es "um den Zusammenhang von regionaler Sicherheit und Wirtschaftsinteressen unsere(s) Lande(s)", um seltene Erden ... (für z.B) Batterien für Hybridfahrzeuge, Mobiltelefonen, Hochleistungsmagneten, Flachbildschirmen, Röntgenapparaten Verwendungen finden. Glaubt man den Berichten, bleibt eine Verknappung nicht ohne Einfluss auf unser wirtschaftliches Wohlergehen. Da stellen sich Fragen, auch für unsere Sicherheit, die für uns von strategischer Bedeutung sind." Das sagte der über sich selbst gestolperte Verteidigungsminister Guttenberg.
(Zitate aus www.dradio.de/download/151026/)
4000 Soldate - und wieviel Zigtausend Afghanen eigentlich? - kamen um, für nix und wieder nix. Das Nix steht für die Wahrheit westlicher Werte. Die sind vom sog. Turbokapitalismus (mir fällt gerade kein anderer Ausdruck ein) völlig ausgehöhlt, negiert und in ihr Gegenteil verkehrt worden. Sie sind für die Menschen in Afghanistan noch nutzloser als das Kopf- und Händeabschlagen der Taliban.
In bestimmten Regionen hat es immer "geknallt", oft bevorzugt in Gebirgsregionen, weil diese einerseits arme Wirtschaftsgebiete sind, andererseits Ausweichgebiete sind, schließlich ihre Geographie Partikularismus bewirkt. Und oft sind sie auch noch Passregionen. Seit Alexander "dem Großen" zieht sich die Spur dieser Gegebenheiten in der Geschichte, irgendwie ist Gewalt immer existent, wie sie jeweils begründet wird ist eigentlich nebensächlich. Seit der Globalisierung des Waffenbesitzes, an dem auch unser Land beteiligt ist, kann alles nur noch schlimmer werden. Das ist die Schuld, da sollte man die Wahrung der Menschenrechte - die Verhütung des noch schlimmeren - als Prüfstein auf das eigenen Verhalten anwenden.
Afghan war whistleblower Daniel Davis: 'I had to speak out – lives are at stake'
Soldier wrote detailed report claiming US generals 'have so distorted the truth … the truth has become unrecognisable'
He had built up a picture of a hopeless cause; a country where Afghan soldiers were incapable of holding on to American gains. US soldiers would fight and die for territory and then see Afghan troops let it fall to the Taliban. Often the Afghans actively worked with the Taliban or simply refused to fight. One Afghan police officer laughed in Davis's face when asked if he ever tried to fight the enemy. "That would be dangerous!" the man said.
Yet at the same time Davis saw America's military chiefs, such as General David Petraeus, constantly speak about America's successes, especially when working with local troops.
Wenn man es von dieser Seite her sieht, dann gab es den stärksten Waffentransfer nach Afghanistan in der Zeit der sowjetischen Präsenz zwischen 1979 und 1989.
@Lutz Herden
Schöner Abriss,
aber in diesem Abschnitt ist besonders viel Nährwert:
"Natürlich hinken derartige Vergleiche. Mit der FLN kämpfte seinerzeit in Südvietnam eine nationalkommunistische Befreiungsfront – in Afghanistan handeln ihrem Glauben größtenteils fanatische ergebene Gotteskrieger, deren Rückkehr zur Macht einen zivilisatorischen Rückschritt sondergleichen bedeutete. So jedenfalls die Annahme, die sich auf das Kalifat bezieht, in das Afghanistan durch die zwischen 1996 und 2001 regierenden Taliban verwandelt wurde...
...Derzeit jedoch kämpfen die Taliban um das Ende einer Besatzung und Fremdbestimmung, die ihrem Land den versprochenen inneren Frieden schuldig blieb."
"..kämpfen die Taliban um das Ende einer..Fremdbestimmung, die den versprochenen(!) inneren Frieden schuldig blieb."
Hätte vor zehn Jahren der Westen nicht begonnen sich so dort auf die Suche nach Bin Laden zu machen,
wäre wohl der Umgang der Afghanen mit ihren aggressiven Tunichtsguten, Extrem-Pfaffen etc. seit dem US-Schah-Putsch auch schon um einiges emanzipatorisch vorangeschritten. Aber nein,
das durfte nicht sein,
Denn ein emanzipiertes Afghanistan wurde und wird weiterhin Dank der Invasion des Westens in die noch weitere Zukunft verschoben, der oben von Ihnen beschriebene
"innere Frieden" wird durch jeden politische Fremdbestimmung verschoben; der innere Frieden wird als historisch-kollektive, individual-psychische Leistung innerhalb einer Gesellschaft erkämpft, errungen( Wir Deutschen sind auch noch lange nicht fertig, wie man liest)...Sicher kann von außen karritativ zugefüttert werden, aber..militärische Gewalt, die kleinstteilig über Jahrzehnte(!) dahinfrickelt und immer mehr Terrornester provoziert und die Geiselhaft der Zivilbevölkerung bewirkt?
Das Ziel dieses Angriffkrieges und seiner fortdauernden Besatzung ist mal wieder einzig dem Umstand geschuldet,
dass die Konditionen der Kolonialzeit weiterhin in den Köpfen und Herzen der westlichen Unternehmer und Konsumenten als Status Quo gelten.
Und in dem einen Punkt verstünde jeder die Taliban:
Amis raus!
-Emma
Um bei dem Bezug zu Vietnam zu bleiben, auch in Afghanistan werden die Amerikaner in Schimpf und Schande aus dem Land gejagt werden! Und irgendwann werden die Angriffe auf die USA erst richtig losgehen - und zwar auf dem eigenen Gebiet der USA!
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