Sein ministerielles Dasein hat Guido Westerwelle bislang jede Menge Antrittsbesuche und Empfänge beschert. Bei all diesen Gelegenheiten, von denen die meisten zu recht längst wieder vergessen sind, ist viel stilles Wasser in die Kelche geflossen, bis der Minister zu Weihnachen mit dem Suppenlöffel ans Glas hämmerte. Er mochte den Vorgang für einen Paukenschlag halten oder nicht – der bisherigen Amtsführung angemessen war er auf jeden Fall.
Anzudeuten, Deutschland könnte die Londoner Afghanistan-Konferenz boykottieren, sollte die sich nur mit Krieg und Truppenstärken befassen, ist ein peinlich durchsichtiges Manöver. Die Diplomatie im Auswärtigen Amt hat es kaum verdient, mit diesem Dienstherren gesegnet zu sein. Westerwelle beglüc
eglückt mit solchem Vulgärpopulismus vielleicht seine Wähler aus der Berliner Diskurs-Schickeria – aber er kann nicht ernsthaft derartige Tricks mit dem Etikett Politik versehen. Was ihn umtreibt, dürfte weniger die bange Frage nach dem Ausgang des westlichen Afghanistan-Abenteuers, sondern eher die Sorge sein, wie ein mögliches Truppenplus der Bundeswehr so zu verkaufen ist, dass es zu Hause wenig Ärger gibt und möglichst keine fallsüchtigen Umfragewerte.Die üblichen FloskelnWesterwelles Kalkül dürfte auf folgende Überlegungen hinauslaufen: Muss Berlin sein Afghanistan-Korps 2010 nicht aufstocken, um so besser. Dann ist das eben den klaren Worten des Außenministers zu verdanken. Kommt es anders, wird die Londoner Konferenz den deutschen Salon-Bellizisten gewiss zu Diensten sein und den zivilen Wiederaufbau gebührend würdigen. Dann ist der Rückgriff auf dieses Standard-Vokabular selbstredend der Beharrlichkeit Westerwelles geschuldet, der zwar nicht mehr herausholen konnte als den rhetorischen Zwilling: Mehr Soldaten, mehr Aufbaufloskeln – aber immerhin.Die Sache bezeugt, wie Außenpolitik als Innenpolitik betrieben und taktisches Geplänkel abgeliefert wird, wo strategische Klarheit gefragt ist. Um zu verdeutlichen, was gemeint ist: Wenn in diesem Jahr 40.000 bis 45.000 zusätzliche Soldaten der NATO-Alliierten in Afghanistan stehen – was werden sie tun? Stützpunkte bewachen und Waffen reinigen?Das US-Oberkommando will offenkundig durch ein Übergewicht an Truppen und Technologie einen Enthauptungsschlag gegen die Aufständischen führen, einige Provinzen befrieden und aus dem jetzigen militärischen Patt eine Position der Stärke zaubern, um die Nachkriegsordnung Afghanistans auszuhandeln. Wie viele Opfer es dabei auf beiden Seiten gibt, ob Präsident Obama und General McChrystal das Blatt wenden und eine Exit-Perspektive erkennbar wird – das alles bleibt offen.Guido Westerwelle, selbstverständlich auch Kanzlerin Merkel und Minister zu Guttenberg feilschen um den deutschen Anteil an den Risiken des beabsichtigten Overkills. Sie scheuen eine klare Auskunft, ob sie diese Strategie annehmen oder verwerfen. Wenn sie alles gutheißen, dann ist eine Truppen-Aufstockung der Bundeswehr nur logisch. Wenn nicht, gilt das Gleiche für einen Truppen-Abzug.Eine vorzügliche VorlageWesterwelle suggeriert mit seiner taktischen Provokation vom Konferenzboykott, es gäbe einen Mittelweg. Wenn aber Franzosen und Briten ihre Kontingente hochfahren – mit welcher Begründung sollte Deutschland geschont werden? Es sei denn, man zieht einen Schlussstrich und steigt aus. Letzteres würde gewiss einen tiefen Riss im westlichen Bündnis heraufbeschwören, aber auch das Bewusstsein dafür schärfen, in welche Lage sich die NATO ohne wirkliche Not in Afghanistan manövriert hat. Ist es nicht höchste Zeit, darüber zu reflektieren, inwieweit diese Allianz noch deutschen Interessen dient in einer Welt, die längst andere Machtzentren kennt und bessere Bündnischancen bietet als das erstarrte Paktsystem der NATO? Warum soll man sich in Afghanistan aufreiben, wenn ein kollektives Sicherheitssystem um Afghanistan herum sehr viel aussichtsreicher ist als ein aussichtsloser Krieg?Der Afghanistan-Konflikt ist in seinem jetzigen Stadium genau genommen eine vorzügliche Vorlage für die Berliner Republik, um über einen französischen Weg nachzudenken und sich von der Allianz dort militärisch zu lösen, wo es angebracht erscheint, weil es die nationalen Interessen verlangen. Freilich ist Minister Westerwelle bislang jeden Hinweis darauf schuldig geblieben, ob er die deutsche Außenpolitik einem jakobinischen Geist der Erneuerung öffnen will, wie das einst Brandt und Scheel vermochten. Kein Wunder, Westerwelle kommt viel zu sehr aus der saturierten Mitte einer sich an ihren Lebenslügen entlang hangelnden Gesellschaft, die modernistischen Attitüden verfällt, wenn es darauf ankommt, über den Tag hinauszudenken.Die Antrittsvisiten diese Ministers im Ausland und seine dabei fließbandartig produzierten Schachtelsatz-Floskeln jedenfalls waren nicht nur langweilig, sondern der Offenbarungseid eines von der Laune des Augenblicks gestreichelten Traditionalisten. Es zog ihn überall dorthin, wo erwartet wurde, dass er kommt – nach Washington, Moskau, Brüssel, Warschau, Jerusalem und so weiter. Aber nicht nach Peking, Delhi, Johannesburg, Brasilia, Caracas, Havanna oder Ankara. Als sei die Welt stehengeblieben seit 1990.