Jean-Claude Junckers Strategiepapier zeigt vor allem eines – die Erosion der EU könnte unaufhaltsam voranschreiten, bleibt man beim Status Quo. Nur wie dem entkommen? Reformen etwa bei den Beteiligungsrechten und Abstimmungsmodalitäten laufen auf Änderungen des EU-Gründungsvertrages und des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinaus. Nur sind derartige Korrekturen in der Regel an ein einstimmiges Votum aller Vertragsstaaten gebunden. Wer will dafür garantieren, wenn es zum Schwur kommt?
So bleibt es beim Eruieren und Empfehlen, wie das mit dem Weißbuch versucht wird. Der Kommissionspräsident wie seine Kommissare nehmen für sich in Anspruch, den Ernst der Lage erkannt zu haben, sagen aber zugleich, um durchgreifen zu
n, sagen aber zugleich, um durchgreifen zu können, fehlen uns Mandat und Macht. Nach der Dienstagabendsitzung der EU-Kommission wird ein Teilnehmer mit dem Satz zitiert: „Besser, wir werden als unentschieden, denn als Stalinisten wahrgenommen.“ Wenn damit gemeint war, dogmatisches Beharren ist unsere Sache nicht, dann sollte der historischen Wahrheit die Ehre gegeben und gesagt werden, Josef Stalin konnte durchaus situationsgerecht und effektiv handeln, was man vom deutschen Finanzdogmatismus in der Eurozone nicht unbedingt sagen kann. Was wird nun mit dem Weißbuch, besonders den fünf Szenarien, auf die sich Juncker festgelegt hat?Soviel steht wohl fest, der Kommissionspräsident will ab sofort in EU-Hauptstädten für seine Gedanken werben, zuerst in Ljubljana, dann in Zagreb, weil sich kleine Mitgliedsländer wie Slowenien und Kroatien des Eindrucks nicht erwehren können, in einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten für den Part der Vergessenen und Verdrängten zuständig zu sein. Junckers Europa der „konzentrischen Kreise“ mit gesteigerter oder gedrosselter Integrationsdynamik wird eben auch ein Verbund aus Kern und Peripherie sein. EU-Randstaaten im Osten und Süden des Kontinents drohen ein Schattendasein zu fristen. Sie könnten dazu auserkoren sein, die „Kreise“ der Großen nicht zu stören. Das war schon eine Intention, als Mitte der 90er Jahre die CDU-Politiker Wolfgang Schäuble und Karl Lamers die Kerneuropa-Idee verfolgten. Sie fand sich danach im öffentlichen Bewusstsein verankert und wurde als Muster zitiert, je mehr die EU allein schon mit ihrer Dimension (28 Mitgliedsstaaten) überfordert schien. Absage an eine Föderation Schäuble und Lamers waren – wie sich inzwischen zeigt – der Zeit voraus. Möglicherweise hatten sie verstanden oder zumindest vermutet, dass eine stetig erweiterte auch eine überdehnte Staatenassoziation sein würde. Tatsächlich bewirkten die Jahre der Osterweiterung zwischen 2004 und 2013, dass zwar der Charakter der EU als Freihandelszone gestärkt, der einer Politischen Union hingegen geschwächt wurde. Die Osterweiterung folgte dem geostrategischen Motiv, die postsozialistischen Staaten Mittelosteuropas von Russland weg an Westeuropa zu binden. Das wurde mit den Neuaufnahmen sicher erreicht, aber parallel dazu der geostrategische Kollateralschaden in Kauf genommen, dass die Union machtpolitisch ein globaler Zwerg blieb, europäische Selbstbestimmung zunehmend europäischer Selbstzerstörung gewichen ist. Dass ließ sich schon vor dem Brexit-Wunsch einer Mehrheit der Briten nicht leugnen. Um so mehr wird der britische Ausstieg diesem Trend Geltung verschaffen. So dass sich die Staatenunion neu erfinden sollte, meint Jean-Claude Juncker. Ob jedoch über "konzentrische Kreise" der Integration? Zweifel sind angebracht. Kommt es dazu, hat sich auf jeden Fall eine Europäische Föderation erledigt, wie sie einst dem grünen Außenminister Joschka Fischer als Akt der europäischer Einheitsfinalität vorschwebte. Das föderative Modell der Bundesrepublik Deutschland funktioniert schließlich nur, weil es keine Bundesländer erster und zweiter Klasse gibt. Vielleicht überlebt Die in Junckers Weißbuch vermerkten Optionen eins und zwei – Erhalt des Status quo bzw. Beschränkung auf den Binnenmarkt – vermessen bei weitem nicht nur aktuelle Wasserstände, sondern zugleich realistische Zukunftsszenarien, wenn die EU gezwungen sein könnte, sich auf das zu beschränken, was noch möglich ist. Szenario vier – weniger, aber effizienter sein, indem sich die Gemeinschaft nur noch auf bestimmte Gebiete konzentriert und andere Kompetenzen den Staaten wieder zurückgibt – scheint von Option zwei nicht übermäßig weit entfernt. Mutmaßlich wird der kooperative Verbund dort halbwegs krisenresistent sein, wo sich die Mitglieder mit nationalen Interessen multilateral bedient fühlen – bei der Regionalpolitik, in der Zollunion bzw. im Binnenmarkt. Warum sonst hält es die Regierung May schon vor den Brexit-Verhandlungen für nahezu unverzichtbar, auf dem EU-Binnenmarkt weiter agieren, also Waren geschützt verkaufen zu können? Und wo zeichnet sich andererseits ab, dass kerneuropäische Mächte wie Deutschland, Frankreich oder Italien zu einem Souveränitätsverzicht etwa in der Außenpolitik bereit sind, so dass statt der mit Maastricht 1992 vereinbarten Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) eine Gemeinsame Kerneuropäische … und so weiter denkbar wird? Die Fraktion der Sozialisten und Demokraten im EU- Parlament hat moniert, Juncker präsentiere einfach fünf Optionen für die Zukunft der EU, doch leider vermisse man eine „klare politische Präferenz“, so der Fraktionsvorsitzende Gianni Pittella. Man opfere „die europäische Zukunft aus Angst vor den nächsten nationalen Wahlen“. Von denen in der Tat einige von Gewicht in diesem Jahr anstehen, in den Niederlanden, in Frankreich und Deutschland, vielleicht auch in Italien.Wenn Donald Trump nicht nur ein Herold der Egomanie, sondern auch ein Symptom dafür ist, dass die Zeit der Supermächte mit globalem Aktionsradius vorbei ist, dann könnte das auch für supranationale Staatenassoziationen wie die EU der Fall sein. Die Staaten in Europa sortieren sich neu – im Prinzip sagen Teile des Weißbuchs genau das.