Lammerts Flüstertüte

Biermann Ein Auftritt im Bundestag lässt wissen, wie sehr doch Sozialisten-Bashing zur Staatstugend gehört und dem Zeitgeist zur Hand geht
Wolf Biermann hat im Bundestag auf Höhe des Präsidiums Platz genommen
Wolf Biermann hat im Bundestag auf Höhe des Präsidiums Platz genommen

Foto: Tobias Schwarz / AFP - Getty Images

Man sieht wieder einmal, wie dünn die Glasur der Liberalität und politischen Friedfertigkeit in diesem Land doch ist. Es muss nur ein bisschen gekratzt werden, schon kommt bösartige Pogrom-Stimmung zum Vorschein.

Dass im Bundestag ein vergnatzter Biermann geifert, dem mit der DDR die künstlerische Kreativität abhanden kam – er hat im Westen gar nicht erst versucht, seine plebejische Poesie gegen zementierte Verhältnisse zu wenden –, muss die Würde des Hohen Hauses mit sich selbst abmachen. Es gab Bilder teils frenetisch klatschender Christ-Demokraten und Christ-Sozialer zu sehen, die es sichtlich genossen, dass Parlamentspräsident und Parteifreund Lammert für die Gedenksitzung zum Mauerfall den Eklat eingefädelt hatte.

Ausgerechnet Lammert, der sich sonst gern als geschmeidiger Kritiker der Regierung inszeniert und mit Intellektualität nicht zu geizen, sondern zu brillieren wünscht, schrumpft zum Bürokraten der Macht. Demaskierung hat etwas Eindrucksvolles, sobald sie sich für nichts zu schade ist.

Flotter Dreier

Dass sich Wolf Biermann das Wort nicht verbieten lässt, soll er zu solchem Anblass und an solcher Stelle den Mund aufmachen, war klar. Ihn treiben das ewige Rückwärtsschauen und das Ergriffensein vom eigenen Selbst, das den alten Bierman mit dem alten Gauck so schön verwechselbar macht. Folgerichtig war zu erleben, wie sich eine „Moral aus der Geschichte“ als kollektiver Shit-Storm gegen die Linke entlud, der von alt hergebrachter Lynch-Stimmung nur schwer zu unterscheiden ist.

Biermann hat die Partei seit jeher zum Intimfeind erkoren und kann den Aggressionsmodus ansatzlos hochfahren, wenn es sein muss.

Dies funktioniert besonders dann, wenn die Partei Wahlerfolge verbucht. Spaßeshalber sei an sein ganzseitiges Pamphlet aus der Welt vom 25. Oktober 2001 erinnert, als Biermann nach den 22,6 Prozent für die damalige PDS im Land Berlin, Demokratie und Wähler schon im Titel genussvoll schmähte: „Diese Wahl war keines Gottesurteil“. Regelrecht geschmackvoll wurde es, als der Autor auf mögliche Koalitionen zu sprechen kam: „Der SPD-Kandidat versucht mit der PDS und den Grünen einen flotten Dreier. Da hätte Herr Wowereit nicht nur eine satte Mehrheit, sondern auch eine ganz neue pikante politische Erotik.“ Mit wem? Auch dazu wird Auskunft erteilt – mit „der lachenden Erbengemeinschaft einer kriminellen Bande marxistelnder Ausbeuter, Mörder, rot getünchter Heuchler und Unterdrücker“.

Das Hemd aufreißen

Offenkundig lässt sich solcherart Visitenkarte gegen ein Entrée-Billett bei Norbert Lammert tauschen, um die Linke als „Reste der Drachenbrut“ zu diffamieren.

Zweck der Übung: Hier der von Biermann verkörperte Anstand der SED-Opfer, dort der politische Aussatz der SED-Nachfolger. So griffig giftig Klartext reden können Gauck, Merkel, Gabriel und Lammert nun einmal nicht, aber applaudieren schon. Es werden ja Linke und Sozialisten niedergemacht, es darf dem antikommunistischen Reflex nachgegeben und eine hysterische Stimmung geschürt werden, die doch bitteschön folgendes Szenario heraufbeschwören möge: Dass sich vor einer demnächst anstehenden Sitzung des Landtags in Erfurt Thüringer Sozialdemokraten oder Grüne finden, die ihrerseits so viel Anstand haben, sich das Hemd aufzureißen und zu rufen, hier stehe ich und kann nicht anders! Es ist mit meinem Gewissen und dem Vermächtnis der Mauertoten unvereinbar, einen Ministerpräsidenten der Mauerbauer zu wählen.

Lammerts Biermann-Coup hätte seinen politischen Gebrauchswert unter Beweis gestellt.

Hat sich eigentlich irgendwann in den letzten Wochen jemand dafür interessiert, was die Linke in Thüringen mit den Sozialdemokraten und Grünen schon verabredet hat und jetzt in Koalitionsverhandlungen mündet?

Stattdessen ist mitzuerleben, wie ein Bundestagspräsident, der gern größer wäre, als sein Amt erlaubt, über dieses Amt hinauswächst, indem er zum Parteisoldaten schrumpft. Zum Schaden des Amtes? Wenn es ihm die Mehrheit des Hohen Hauses durchgehen lässt, dann nicht nur zum Schaden des Amtes, sondern der politischen Kultur im Parlament, das dann freilich über einen Präsidenten verfügt, den es verdient.

Klassenhass ist der Schlüssel

Übrigens kritisierte Lammert am Tag des Biermann-Auftritts die Aktion der "geflohenen weißen Kreuze" draußen vor dem Reichstag im Bundestag gehörig: „Die Weißen Kreuze sind vor einigen Tagen gestohlen worden mit einer heldenhaften Attitüde und einer pseudo-humanitären Begründung, die man für blanken Zynismus halten muss.“

Da fällt einem doch unwillkürlich der stalinistische Literaturdiktator Leopold Awerbach ein, in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren in Moskau Herausgeber der Zeitschrift Molodaja Gwardija. 1929 geißelte der einen begabten sowjetischen Autor wie Andrej Platonow in der Absicht, ihn zu vernichten, mit den Worten: „Man kommt uns mit Humanismus-Propaganda, als gäbe es auf Welt etwas wahrhaft Menschlicheres als den Klassenhass der Proletariats.“

Klassenhass und -dünkel – es ist und bleibt der Schlüssel, um zu verstehen, was geschieht. Leider weicht die Linkspartei unter dem enormen Druck immer mehr zurück – ihr DDR-Bild könnte defensiver, der Widerstand gegen ihre Gegner verhaltener nicht sein. Sie läuft Gefahr, den Hass immer weniger zu verdienen, der sie trotzdem trifft.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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