In Prag, Warschau und Budapest waren die Regierungen noch damit beschäftigt, den am 12. März offiziell vollzogenen NATO-Beitritt zu würdigen, da traf sie die Nachricht vom jähen Fall der EU-Kommission. Seither heißt es unisono und beschwichtigend in den dortigen Außenministerien, selbstverständlich seien keine Konsequenzen für den eigenen EU-Beitritt zu befürchten. Ein Pfeifen im Walde, das sich keineswegs unsichtbarer Gefahren erwehrt, sondern schon mit einem gewaltigen Luftholen verrät, wer und was da übertönt werden soll.
Es besteht kein Zweifel, in den Transformationsstaaten muß die europäische Idee gerade jetzt mehr denn je Federn lassen. Allerdings haben daran korrupte Kommissare in Brüssel weniger Anteil als
niger Anteil als die Vorboten der »Agenda 2000« (Subventionsabbau, marktgesteuerter Strukturwandel, makroökonomische Stabilitätspolitik, niedrige Inflation).Für die zwischenzeitlich etablierten Füh rungseliten Osteuropas entsteht damit notgedrungen ein ernstzunehmendes Legitimationsproblem. Immerhin waren sie 1989/90 ausnahmslos mit dem Anspruch angetreten, für eine forcierte Integration in euro-atlantische Strukturen sorgen zu wollen. Ein radikal marktwirtschaftlich-orientierter Reformprozeß wurde vorrangig damit begründet, nur so Anschluß an das Europa der EU gewinnen zu können.Allerdings korrespondierte bei alldem von Anfang an der Wertetransfer aus dem Westen nicht mit einem gravierenden Bewußtseinswandel im Osten. Er fungierte eher als ideelle Ummantelung von Erwartungen, die sich auf die soziale und ökonomische Leistungskraft einer Form der marktwirtschaftlichen Ordnung bezogen, wie sie in den frühen neunziger Jahren in den meisten Staaten Westeuropas existierte. Die stehende Wendung vom »Goldenen Westen«, in dem unablässig Milch und Honig fließen, ließ Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Liberalität gern als kunstvolle Intarsienmalerei gelten, auf die aber notfalls auch zu verzichten war. Andererseits mußte der Westen nach der Systemimplosion im Osten - schon aus einem elitären Selbstverständnis heraus - den Transfer eben dieser Werte zur Norm erheben, an der sich die Anwärter auf Westintegration zu messen hatten. Ein Beispiel dafür, wie dabei Anspruch und Realität kollidieren können, liefert seit fast einem Jahrzehnt der Europarat, der inzwischen zur Hälfte aus osteuropäischen Mitgliedern besteht und sich deswegen immer wieder dem Eindruck ausgesetzt sieht, mit fragwürdigen Kantonisten wie Rußland oder Kroatien seine Menschenrechtsrhetorik eindrucksvoll zu karikieren.Je mehr jedoch der Anschluß Osteuropas an den sozialen Standard des Westens - nicht zuletzt durch Fristen und Modalitäten der EU-Aufnahme - in Frage steht, desto eher wird dessen Werteordnung als rein deklaratives Kompendium von Schöngeistern angreifbar, mit dem man sich höchstens platonisch, aber nicht im wahren Leben verbunden fühlt. Für eine national-katholische Rechte in Polen zum Beispiel gilt westlicher Liberalismus heute als erbarmungslos-exzessiver Individualismus, wird westliche Kultur als Freizeitvergnügen einer kleinen selbstverliebten Elite dargestellt, die generös darüber hinweg sieht, wie der mediale Massenkonsum vorzugsweise durch Gewalt und Pornographie bestritten wird.Die Transformationseliten geraten so gleich in dreifacher Hinsicht unter Druck - ihre Legitimation nimmt in dem Maße ab, in dem die ersehnte soziale Ausbeute der Westintegration ausbleibt. Das gilt - zweitens - vor allem dann, wenn sich zugleich abzeichnet, daß auf bestimmte soziale Gruppen mit dem EU-Beitritt eine Anpassungsleistung zukommt, wie sie mit allen existentiellen Konsequenzen schon einmal während der heißen Phase der Systemwende von 1989/90 gefordert war. Dies wiederum berührt - drittens - die Reputation der Transformationseliten in Westeuropa. Dort wurde den neuen östlichen Führungsschichten bisher gerade das Verdienst attestiert, aus eigenen Kräften für die politische Stabilität ihrer Länder und die Loyalität eines Sicherheits- und Militärapparates zu bürgen, der - auch wenn seine Führungen ausgewechselt wurden - als homogener Organismus vom »sozialistischen Staat« übernommen wurde. Das haben die zu Sozialdemokraten konvertierten Postkommunisten der SdRP (*) in Polen oder der USP (**) von Ex-Premier Gyula Horn in Ungarn ebenso zuwege gebracht wie die konservative Demokratische Bürgerpartei (ODS) des Václav Klaus in Tschechien oder die inzwischen regierende technokratische Intelligenz der Jungdemokraten (FIDESZ) des Premiers Viktor Orban in Budapest. Die Geschäftsgrundlage dieser Konvergenz von alten, neuen und alt-neuen Eliten definiert sich als Partizipation, eine über dem sozialen Durchschnitt liegende Alimentierung und die Absolution für vermeintliche oder tatsächliche Sünden der Vergangenheit. Daß dabei Differenzen zwischen dem Elitehandeln und den Erwartungen der Bevölkerung auftreten, liegt auf der Hand - die Frage war und ist es jetzt erst recht, inwieweit sich dadurch Vertrauenseinbrüche ergeben, die irreversibel sein, zumindest aber destabilisierend wirken können. Nicht nur die »Wende« von 1989/90 hat die Lust großer Teile der Bevölkerung auf einen Elitenaustausch erkennen lassen. Mitte der neunziger Jahre war diese Lust erneut vorhanden, als die Transformationseliten der ersten Generation, die sich aus oppositionell-dissidenten Bürgerrechtsgruppen der sozialistischen Ära und der bürgerlich-konservativen Klientel der Wendegewinnler rekrutierten, in Polen, Bulgarien, Litauen, und Ungarn vorübergehend zugunsten der Reformeliten aus postkommunistischen Parteien abgewählt wurden. Waren damals noch weitgehend soziale Gründe maßgebend, haben sich inzwischen auch auf der politischen Werteskala mitunter drastische Änderungen ergeben. So grassieren sowohl anti-euro pä isch-nationalistische, zum Teil chauvinistische Einstellungen wie auch autoritäre Staatsauffassungen, denen kaum EU-Kompatibiltät unterstellt werden kann. Eine Studie von Krakower Sozialwissenschaftlern (s. Übersicht) deutet überdies daraufhin, daß auch rudimentär-sozialistische Wertvorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit wieder Zulauf haben. Daß sich unter dem Eindruck des Verlaufs der EU-Integration eine Kluft zwischen der politischen Kultur der Eliten und dem Willen nach einer eigenständigen politischen Kultur größerer Teile der Bevölkerung vertiefen kann, wird niemand bestreiten wollen.Je mehr indes die Folgen der »Agenda 2000« osteuropäische Politiker zwingen sollten, eine zuweilen ausgesprochen devote Haltung gegenüber Brüssel zugunsten von mehr Selbstbewußtsein und Realpolitik aufzugeben, desto aussichtsreicher wird es sein, diesem Trend entgegenzuwirken.(*) Sozialdemokratie der Republik Polen (**) Ungarische Sozialistische Partei Zum Thema siehe auch: EG-Sondergipfel in BerlinIm GesprächFalsche SignaleJens RennerMeister des KonsensesGabriele Lesser, WarschauAckerbau und Viehzucht