Egon Krenz und Günter Schabowski während einer Pause der ZK-Tagung
Foto; Wolfgang Weihs (DPA)
„Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns“, soll Egon Krenz am Abend des 9. November gegen 18.00 Uhr zu Günter Schabowski gesagt haben, bevor der von der andauernden 10. Tagung des SED-Zentralkomitees zur abendlichen Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum abfährt. „Der Knüller“ ist die Regierungsvorlage für ein neues Reisegesetz die DDR. Tatsächlich ist das von der seit dem 6. November nur noch amtierenden Regierung von Premier Willi Stoph noch nicht offiziell verabschiedet worden. Das soll im „Umlaufverfahren“ durch die zuständigen Ressorts nachgeholt werden. Und zwar unverzüglich. Doch Innenminister Friedrich Dickel, der den Entwurf in Auftrag gab, sitzt in der ZK-Tagung.
Der Druck, unter dem
Der Druck, unter dem die SED-Führung steht, ist enorm. Am Nachmittag hat Krenz auf dem ZK-Plenum erklärt (wie später dem Tonmitschnitt zu entnehmen ist): „Euch ist ja bekannt, dass es ein Problem gibt, das uns alle belastet, die Frage der Ausreisen, und was wir auch machen in dieser Situation – es wird ein falscher Schritt sein.“ Dass es ein neues Reisegesetz und damit völlige Reisefreiheit für DDR-Bürger geben wird, hat sich schon in den Tagen zuvor abgezeichnet. Es gibt dazu keine Alternative. Die CSSR-Regierung will es nicht länger hinnehmen, dass in Prag nach wie vor Ostdeutsche für Furore und Unruhe sorgen und die westdeutsche Botschaft als Asylort ansteuern. Hatte die DDR-Regierung noch Anfang Oktober darauf beharrt, dass es eine Ausreise dieser Personen nur über ihr eigenes Territorium geben dürfe, lässt sich diese Vorgabe nun nicht mehr durchhalten. Anfang November haben etwa 6.000 Botschaftsflüchtlinge allein gegen Vorlage ihres DDR-Personalausweises das CSSR-Territorium auf direktem Wege in Richtung Bundesrepublik Deutschland verlassen können. Das entspannt die Lage für die Tschechoslowakei, stimuliert aber auch die Flucht- und Ausreise-Willigen in der DDR. Krenz hat recht, was man tut, wenn man etwas tut, ist immer "falsch".Sozialismus, und keiner geht wegDass etwas in der Luft liegt, geht am 4. November, dem Tag des Mega-Meetings der 300.000 auf dem Berliner Alexanderplatz, nicht zuletzt aus einem Interview mit dem stellvertretenden Innenminister Dieter Winderlich für die Aktuelle Kamera (AK) des DDR-Fernsehens (DDR-F) hervor. Der Tenor: Anträge auf ständige Ausreise aus der DDR werden unbürokratisch und schnell entschieden. Ablehnende Bescheide soll es nur noch in Ausnahmefällen geben, sofern es um legitime staatliche Interessen geht. Ansonsten würden großzügige Regelungen greifen – bei Arbeitsausstieg, Familienzusammenführung, Vermögensfragen, einem Umzug von Ost nach West. Es wird an diesem 4. November auch eine offizielle Zahl genannt, „bis zu diesem Zeitpunkt“ seien „91. 375 Bürger der DDR in die BRD und nach Westberlin ausgereist“. Vermutlich bezieht sich die Angabe auf das laufende Jahr. Die gesicherte Grenze als Pressverband gegen das Ausbluten ist bereits so durchlässig wie nie. Es muss etwas unternommen werden, dem entgegen zu wirken. Nur was?Auf dem Alexanderplatz sagt Christa Wolf am 4. November 1989 bei ihrem Aufritt: „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg! Wir sehen aber die Bilder der immer noch Weggehenden und fragen uns. Was tun? Und hören als Echo die Antwort: Was tun!“Erste Streikdrohungen Doch was getan wird, reicht offenbar nicht. Am 2. November, in der Woche vor der 10. ZK-Tagung, wird der Entwurf eines Reisegesetzes veröffentlicht, das glatt durchfällt. Der Staat will weiter das letzte Wort haben, ob das Ver- oder Ausreisen eines Bürgers zulässig ist oder nicht. Auch wenn das Recht auf Privatreisen und die ständige Ausreise prinzipiell bestehen soll, müssen sie doch beantragt und letzten Endes genehmigt werden. Was auch Ablehnung bedeuten kann. Die Quittung für diese Inkonsequenz, das sind erstmals Streikdrohungen aus Betrieben im Süden der Republik und in der Umgebung von Berlin, dazu wütende Proteste auf der inzwischen allwöchentlichen Montagsdemonstration in Leipzig. Krenz braucht einen Befreiungsschlag, „den Knüller“ eben. Was ein solcher sein könnte, sagt der Anwalt Gregor Gysi in der neuen Nachrichtensendung des DDR-F „AK zwo“ am 2. November gegen 22.15 Uhr: Jeder DDR-Bürger sollte einfach einen Pass erhalten, der ihn jederzeit zum Grenzübertritt berechtigt. Das Einreisevisum für das gewünschte Reiseland müsste sich jeder selbst besorgen. Was freilich für die Bundesrepublik entfällt, da sie alle Deutschen als eigene Bürger betrachtet und eine Staatsbürgerschaft der DDR nicht anerkennt. Mit anderen Worten, der damaligen DDR-Führung musste klar sein, dass sie bei dieser Rechtslage im Prinzip jeden Bürger an den anderen deutschen Staat verlieren kann, sobald der die Grenzlinie überschreitet. Vermutlich war sich Krenz dessen bewusst, als er andeutet, was man auch unternehme – es werde das Falsche sein.So überrascht wie die Grenzer Soviel steht fest, was Günter Schabowski auf seiner Pressekonferenz gegen 19.00 Uhr verkündet, kommt zwar aus der Regierung, ist aber noch kein Regierungsbeschluss – dazu sollte es erst nach der Runde im Ministerrat kommen, an der auch der DDR-Verteidigungsminister beteiligt gewesen wäre. Generaloberst Heinz Keßler, Mitglied der SED-Politbüros, fährt nach Ende der ZK-Tagung am Abend des 9. November erst einmal in sein Ministerium nach Strausberg bei Berlin, um dort das Kollegium zu informieren, die Kommandierenden der Teilstreitkräfte, darunter der Grenztruppen. Fritz Streletz, Stabschef der Nationalen Volksarmee (NVA), erinnert sich in einem Ende 1994 mit ihm geführten Interview: „Solange wir im Sitzungsaal des ZK-Plenums saßen, wussten wir nicht, dass Schabowski die Regelung bereits gegen 19.00 Uhr auf seiner Pressekonferenz bekanntgegeben hatte. Es stimmt also nicht, dass wir vorher von der Erklärung Schabowskis wussten. Wir sind davon ebenso überrascht worden wie der Grenzsoldat unten an der Grenzübergangsstelle, als die Leute kamen.“Die militärische Führung der DDR ahnungslos? Opfer einer einsamen Entscheidung von Krenz und Umgebung, die mit dem Rücken zur Wand stehen? Oder unwillig und überfordert, sich der Situation zu stellen? Das Kollegium in Strausberg tagt am 9. November ab 21.30 Uhr, kurz danach werden Streletz und der Chef der DDR-Grenztruppen, Generaloberst Baumgarten, ans Telefon gerufen und erfahren, dass sich vor Berliner Grenzübergängen die Menschen sammeln und auf Schabowski berufen. Es beginnt eine Art Telefonkonferenz, vorzugsweise mit dem MfS, bei der man sich mehr ober weniger einig ist, Schabowski habe auf der Pressekonferenz „irgendwelchen Mist verzapft“. Die Runde erfährt schließlich gegen 23.00 Uhr, dass von Krenz an Staatssicherheitsminister Erich Mielke Befehl ergangen sei, die bedrängten Grenzübergangstellen zu öffnen. Erst am nächsten Tag, gegen 11.00 Uhr, wird mit einen Telegramm nach Moskau die sowjetische Führung ins Bild gesetzt.Nur fünf TageOb sich Schabowski über die Konsequenzen seiner Botschaft nicht im Klaren war, darf bezweifelt werden. Die zur Veröffentlichung vorgesehene Regelung hatte eine Sperrfrist, sie galt bis zum 10. November, 04.00 Uhr, was der Verkünder übersehen haben will, aber vermutlich für die Reaktionen in Berlin – sprich: den Ansturm auf die Grenzübergänge – keine Rolle gespielt hat. Die Geschichte nahm längst ihren unwiderruflichen Verlauf, so dass die Frage müßig erscheint, warum die DDR-Grenze derart chaotisch, überstürzt und unkoordiniert geöffnet wurde. Ersparen sollte man sie den Akteuren jedoch nicht. Gewiss waren die Ereignisse vom äußeren Anschein her ein Indikator, wie sehr die DDR-Führung unter Strom stand und in Notwehr handelte. Aber möglicherweise auch das Kalkül durch die Köpfe spukte, wenn wir schon untergehen, dann als gefeierte Grenzöffner? Sollte der Staat daran kaputt gehen, tut uns das leid. Es wirkt schon gespenstisch bis absurd, dass am Morgen des 10. November 1989 die 10. ZK-Tagung fortgesetzt wird, Krenz die Sitzung gegen 9.00 Uhr eröffnet und dem Protokoll zu entnehmen ist, dass er kein Wort über die Geschehnisse der zurückliegenden Nacht verliert. Von den etwa 150 anwesenden ZK-Mitgliedern (dazu 57 Kandidaten) stellt zunächst gleichfalls niemand den Antrag, die Tagesordnung über den Haufen zu werfen und sich damit zu beschäftigen, wie die DDR in dieser Situation mit einer offenen Grenze umgehen und überleben will. Stattdessen wird die Sitzung nach turbulenten Stunden, Personaldebatten und Fast-Nervenzusammenbrüchen gegen 13.10 Uhr abgebrochen – man vertagt sich ohne neuen Termin.Es ist nur fünf Tage her, dass die große Aussprache auf dem Alexanderplatz die Gemüter beglückte. Wer nicht Sand in den Augen hat, dem bleibt die Einsicht nicht erspart – es war ein Tag der Republik, aber es war auch der letzte Wochenende der Republik. Kein Hochamt der Wende, das Wort Epilog trifft es eher.
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